Mit Grenzen leben lernen – Internationale Tagung über Psycho-Onkologie – Perspektiven 2004

Die seelischen und psychosozialen Dimensionen von Krebserkrankungen stehen im Mittelpunkt einer internationalen Tagung der Psycho-Onkologen am 12. und 13. November in München. „Leben lernen, auch mit Grenzen – dabei wollen wir die Patienten unterstützen“, erklärt Professor Almuth Sellschopp von der AG Psycho-Onkologie am Tumor-Therapie-Zentrum des Klinikums rechts der Isar in München.

Die Diagnose „Krebs“ gleicht für die meisten Patientinnen und Patienten einem „Sturz aus der normalen Wirklichkeit“. Das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen verändert sich grundlegend von einem Tag auf den anderen, „es kommt plötzlich zu einer Zäsur im normalen Lebensgefühl“, sagt Professor Almuth Sellschopp. Die moderne Medizin verbucht zwar enorme Fortschritte, aber noch immer verursacht die Krankheit bei vielen Patienten Angst, Verunsicherung, und Depression. Krebs bedeutet damit nicht nur körperliche Belastungen, sondern auch seelisches Leid.

„Etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten sind so stark belastet, dass sie spezielle Hilfe benötigen“, erklärt die renommierte Psycho-Onkologin Professor Jimmie Holland vom Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York. Doch im hektischen Klinikalltag fällt dies nur bei etwa fünf Prozent der Patienten auf. Entsprechend gering ist der Prozentsatz an Patienten, die in ihrer Not spezielle Hilfe erhalten. Die US-Forscherin gilt international als die Gründerin der Psycho-Onkologie.

Diese Reaktion auf die Erkrankung bedeutet indes nicht, dass die betroffenen Patienten psychisch krank sind. „Vielmehr reagieren sie gesund und normal auf eine Belastung“, betont Professor Almuth Sellschopp. Die Patienten dürften daher weder „psychologisiert“ noch „psychiatrisiert“ werden.

Belastung erkennen

Im Rahmen eines Forschungsprojektes untersuchen die Psycho-Onkologen am Tumor-Therapie-Zentrum des Klinikums rechts der Isar unter Leitung von Almuth Sellschopp seit knapp einem Jahr, ob es möglich ist, besonders belastete Patienten, die von speziellen Hilfen wahrscheinlich profitieren, zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Klinik zu identifizieren.

Alle Patienten, die in der chirurgischen oder strahlentherapeutischen Klinik aufgenommen werden, füllen seitdem Fragebögen aus, mit deren Hilfe Angst, Depressivität und Lebensqualität erfasst werden können. Auch der aufnehmende Arzt beurteilt anhand eines neu entwickelten Kurzfragebogens das Ausmaß der Belastung. Das Ergebnis dieses Screenings wird in die elektronische Krankenakte aufgenommen und hat bei Bedarf Einfluss auf die individuelle Therapieplanung. „Etwa 20 Prozent der Patienten haben nach unseren vorläufigen Beobachtungen zum Zeitpunkt der Aufnahme Belastungen“, berichtet Sellschopp. Dieser geringe Prozentsatz könne damit zusammenhängen, so die Psycho-Onkologin weiter, dass mögliche Belastungen zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Klinik noch nicht so wahrgenommen werden wie vielleicht im weiteren Verlauf der Erkrankung.

Mit Mythen aufräumen

In den letzten Jahren hat die psychoonkologische Forschung begonnen, mit zahlreichen Mythen aufzuräumen. So spukt beispielsweise noch in vielen Köpfen die Vorstellung, dass psychische Faktoren alleine, beispielsweise der Verlust eines geliebten Menschen oder Depressionen, eine Krebskrankheit verursachen können. Heute ist klar: „Diese Faktoren stellen keinen spezifischen Risikofaktor für eine Krebserkrankung dar“, stellt Professor Christoph Hürny vom Bürgerspital in St. Gallen fest.

Individuelle Wege finden

Auch mit der Vorstellung, dass eine Krebskrankheit auf eine ganz bestimmte Art verarbeitet werden müsse, gehen die Psycho-Onkologen inzwischen hart ins Gericht. Patienten und Angehörige erleben eine Krebskrankheit individuell sehr unterschiedlich . „Auch wie sie mit der Erkrankung umgehen, ist etwas sehr Persönliches“, erklärt Professor Dr. Jürg Bernhard vom Schweizerischen Institut für angewandte Krebsforschung in Bern. Dies betrifft auch die Entscheidungsfindung für oder gegen eine bestimmte Therapie und wie eine Therapie ertragen wird. „Oftmals gelingt es Krebskranken erstaunlich gut“, weiß Bernhard, „sich an die krankheits- und therapiebedingten Belastungen anzupassen und neue Wege im Umgang mit diesen Belastungen zu finden.“

Niemand kann immer „positiv“ sein

Doch welcher Weg im Einzelfall der beste ist, müssen die Patienten für sich selbst herausfinden und entscheiden. „Es gibt keinen ’richtigen Weg’“, sagt Jimmie Holland, „wie beispielsweise immer positiv zu denken.“ Das sei unmöglich, werde aber von den Patienten noch immer verlangt. „Wichtig ist es vielmehr, zu respektieren, wie ein Patient persönlich versucht, die Krankheit zu bewältigen.“ „Moderne Gesundheitsapostel“, kritisiert Christoph Hürny, „haben die subjektive Einstellung zum Leben und zur Krebskrankheit in versimpelnder Weise mit Prognose gleichgesetzt.“ Dadurch würden Patienten das Gefühl nicht los, dass ihre Erkrankung rapide fortschreiten würde, wenn sie nicht „positiv“ dächten. Falsch verstandene Zusammenhänge zwischen Psyche und Krebs verhindern indes die adäquate Auseinandersetzung eines Patienten mit seiner Krankheit, zu der vorübergehend auch Verzweiflung und Traurigsein gehören.

Trauer zulassen

„Natürlich gibt es Fälle“, sagt Almuth Sellschopp, „in denen man einem Patienten dabei helfen kann, positive Quellen zu entdecken.“ Doch nicht immer seien die Belastungen zu beeinflussen oder aufzuheben. Dann gelte es, die Trauer zuzulassen, mit Grenzen leben zu lernen und die Belastungen – mit Unterstützung – auch auszuhalten, sagt Sellschopp und zitiert einen Spruch amerikanischer Experten: „You can’t do it alone, but you alone can do it“ – frei übersetzt: „Du kannst es nicht alleine schaffen, aber nur Du selbst kannst es schaffen.“

Bessere Lebensqualität

Durch zahlreiche wissenschaftliche Studien ist inzwischen gesichert, dass eine psychosoziale Behandlung die Krankheitsverarbeitung und Lebensqualität der Patienten verbessern und ihre Kompetenz im Umgang mit den Belastungen der Erkrankung oder Behandlung stärken kann. So berichtet Professor Steven Greer vom St. Raphaels Hospice in Surrey auf der Tagung, dass eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung die Angst von Patienten deutlich lindern kann. Zu Beginn der Behandlung litten 46 Prozent der Patienten unter Angst. In der behandelten Gruppe sank dieser Anteil binnen eines Jahres auf 19 Prozent, in der unbehandelten Vergleichsgruppe war mit 44 Prozent der Anteil der Patienten mit Angstsymptomen nahezu unverändert.

Unklar ist allerdings, ob dieser positive Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden auch Überlebensvorteile bringt. Dies hat zum einen mit der Komplexität des Geschehens und mit den Defiziten der derzeit üblichen Forschungsmethoden zu tun. Darum stehen Experten wie Hürny Studien skeptisch gegenüber, bei denen solche Zusammenhänge beobachtet wurden.

Psycho-Onkologie gehört in die Krebsmedizin

Klar ist hingegen die Sorge der Psycho-Onkologen, dass in Zeiten von Fallpauschalen und DRGs die Gefahr besteht, dass die existentiellen und psychosozialen Belange der Kranken unter den Tisch fallen und die Patienten und ihre Angehörigen mit ihren Belastungen allein gelassen werden. „Wir müssen der Öffentlichkeit und den Politikern klar machen“, sagt Jimmie Holland, „dass die psychosoziale Behandlung ein integraler Bestandteil der Krebsmedizin ist und zur Therapie gehört wie eine Operation oder Medikamente – und dass sie sich auch ökonomisch rechnen, wie zahlreiche Studien belegen.“

Frau Huebener PR + ÖA
Klinikum rechts der Isar
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