Elektrochemie – Renaissance einer Querschnittsdisziplin

Und so wird aus der ehemaligen Jahrestagung der Fachgruppe Angewandte Elektrochemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) die erste „joint conference“ mit dem Arbeitskreis Elektrochemische Analysenmethoden, der Deutschen Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie, der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie (Dechema), der Arbeitsgemeinschaft elektrochemischer Forschungsinstitutionen, der Gesellschaft für Korrosionsschutz und der Deutschen Gesellschaft für Galvano- und Oberflächentechnik.

Die Tagung wird unter dem Thema „Electrochemistry: Crossing boundaries“ zudem erstmalig auch international ausgerichtet. Sie findet vom 6. bis 8. Oktober 2008 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen statt.

Das Thema der Tagung hat gewollt eine mehrfache Bedeutung: Alle elektrochemischen Reaktionen sind Grenzflächenprozesse, und „crossing boundaries“ deutet den damit verbundenen Ladungstransfer über Grenzflächen hinweg an. Mit der Tagung sollen aber auch die Grenzen der traditionellen Elektrochemie überschritten werden, und andere Disziplinen wie die Physik, die Materialwissenschaften, die Biologie und die Medizin werden ausdrücklich einbezogen. Gleichermaßen sollen die theoretischen Grundlagen gemeinsam mit der angewandten Forschung und den industriellen Prozessen behandelt werden.

Besonders die derzeit dringend notwendige Entwicklung leistungsfähigerer Batterien und Brennstoffzellen erfordert ein noch besseres theoretisches Verständnis sowie Erfolge in der Grundlagenforschung und in der angewandten Forschung. Nicht zuletzt wollen aber auch die verschiedenen an der Organisation beteiligten Verbände und Einrichtungen institutionelle Grenzen überwinden und den Startschuss für weitere gemeinsame Tagungen auf dem Gebiet der Elektrochemie geben.

In vier Plenarvorträgen und 12 Fortschrittsberichten sollen besonders aktive Felder der Elektrochemie beleuchtet werden: Um elektrochemische Reaktionen, wie sie in Batterien und Brennstoffzellen, bei Elektrolysen oder auch in vielen Sensoren ablaufen, besser zu verstehen und optimieren zu können, muss man sich Abläufe und Strukturen auf atomarer oder molekularer Ebene anschauen. Nur in einem solchen mikroskopischen Bild sieht man, wie beispielsweise die Kontaktstelle zwischen einer Metalloberfläche und einem Elektrolyten beschaffen ist und welche Reaktionen an einer solchen Grenzfläche ablaufen. Professor Dr. Dieter M. Kolb untersucht an der Universität Ulm Oberflächenstrukturen und Grenzflächenvorgänge auf atomarer Ebene und bedient sich dabei moderner Konzepte der Festkörperphysik sowie struktursensitiver Techniken wie der Rastertunnelmikroskopie. In einem Plenarvortrag spricht er über seine sehr erfolgreichen und grundlegenden Arbeiten zur strukturellen Charakterisierung von Einkristallelektroden und wie man diese wohldefiniert präpariert.

Durch gezielte Untersuchungen auf der mikroskopischen, im Grenzfall atomaren Ebene wollen Elektrochemiker heute nicht nur Probleme bei der Brennstoffzellenentwicklung lösen, sondern sie wollen auch Licht in das Dunkel der organischen Elektrosynthese und der elektrochemischen Prozesse in der Natur bringen. Die industriell eingesetzten oxidativen elektrochemischen Prozesse gelten als vielseitig, umweltverträglich und kostengünstig. Bei der organischen Elektrosynthese arbeitet man heute vor allem daran, die Selektivität – also die stoffliche Zielgenauigkeit – zu erhöhen. Die Zerstörung toxischer organischer Verunreinigungen im Wasser will man bis hin zur Mineralisation noch effizienter gestalten. Bei der direkten elektrochemischen Oxidation wird das Elektron zwischen der organischen Substanz und der Oberfläche der elektrokatalytisch wirkenden Elektrode, beispielsweise einer Platin-Anode, direkt ausgetauscht. Dabei lässt aber leider die katalytische Aktivität der Anode im Laufe des Prozesses deutlich nach – hauptsächlich, weil Zwischenprodukte wie Kohlenmonoxid an der Anoden-Oberfläche adsorbiert werden (CO-Vergiftung). Bei der indirekten elektrochemischen Oxidation vermitteln elektroaktive Spezies den Elektronenaustausch zwischen der organischen Substanz und der Elektrodenoberfläche. Professor Dr. Christos Comninellis vom Swiss Federal Institute of Technology in Lausanne sucht nach geeigneten neuen Elektrodenmaterialien für diese Prozesse. Hervorragende Kandidaten sind beispielsweise synthetische mit Bor dotierte Diamant-Elektroden oder Metalloxid-Anoden. An ihnen untersucht er die Mechanismen der elektrochemischen Sauerstoff-Transferreaktionen und schlägt kinetische Modelle vor, mit denen die Reaktionsabläufe erklärbar werden. Auch Comninellis wird seine Arbeiten in einem Plenarvortrag vorstellen.

Professor Dr. Joachim Maier vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart macht in Gießen deutlich, dass man bei der Erforschung der Vorgänge in keramischen Brennstoffzellen oder modernen Lithium-Ionenbatterien neue Wege gehen muss, die den Horizont der klassischen Elektrochemie flüssiger Elektrolyte erheblich erweitern. Denn die Mechanismen für den Ladungstransport und die Elektrodenreaktionen unterschieden sich erheblich von den Prozessen in Flüssigkeiten. Als Defektchemie unter dem Dach der Festkörperionik ist hier in den letzten Jahrzehnten ein neues Gebiet der Elektrochemie entstanden, das sich rasch entwickelt und heute zu den aktivsten Gebieten der Elektrochemie zählt. Maier wird unter anderem zeigen, dass die Defektchemie quasi ein Pendant zur Säure-Base- und Redox-Chemie in wässriger Lösung ist. Auch hier sind wieder Grenzflächeneffekte von besonderem Interesse und die dort auftretenden Anomalien bezüglich Ionenleitfähigkeit und Stoffabscheidung. Diese Vorgänge an den Grenzflächen ändern sich zum Teil erheblich, wenn man von Makrostrukturen zu Nanostrukturen übergeht, was Maier am Beispiel der Lithium-Batterien in seinem Plenarvortrag diskutieren will.

Auch der vierte Plenarvortragende, Professor Dr. Philip N. Bartlett von der University of Southampton, befasst sich mit Festkörperoberflächen, die er gezielt und strukturiert elektrochemisch herstellen kann, indem er Monolagen aus kolloidalen Polystyrol-Partikeln als Templat, quasi also als Schablone, verwendet. Diese Oberflächen unterscheiden sich von den rauen Oberflächen, die man bei normaler elektrochemischer Abscheidung erhält. Die dort zu beobachtende oberflächenverstärkte Raman-Streuung wird an strukturierten Oberflächen noch verstärkt, was mit der Anregung von Oberflächenplasmonen zu tun hat. Hier geht die Festkörperforschung in die Quantenphysik über; denn Plasmonen sind quantisierte Dichteschwankungen von Ladungsträgern.

Die kurz umrissenen vier Plenarvorträge in Gießen zeigen, welche Wandlung und thematische Erweiterung die Elektrochemie bis heute erfahren hat. Neben der klassischen Galvanik und Elektrosynthese haben sich zahlreiche neue Forschungsgebiete und Anwendungen etabliert, die sich häufig an den Schnittstellen zu den Ingenieurswissenschaften, der Physik, der Biologie oder der Medizin finden. Das theoretische und experimentelle Repertoire hat sich beträchtlich erweitert, was es angesichts der Herausforderungen der nächsten Jahre noch zu verstärken gilt: Die Erhöhung der Leistung, der Lebenserwartung, der Sicherheit und der Effizienz von Batterien oder Brennstoffzellen ist hier nur eine von vielen Aufgaben. Effizientere Synthesen, hochselektive Sensoren und elektrochemisch modifizierte Oberflächen gilt es ebenfalls zu entwickeln.

Wer in der elektrochemischen Grundlagenforschung Ergebnisse erzielen konnte, die die ablaufenden Vorgänge besser verständlich machen und so die Optimierung eines Systems ermöglichen, soll dafür Anerkennung erfahren. In Gießen wird Dr. Magdalena Hromadova vom Heyrovsky Institute of Physical Chemistry in Prag für ihre sehr breit gefächerten theoretischen und experimentellen Arbeiten über elektrochemische Prozesse an Grenzflächen mit dem Klaus-Jürgen-Vetter-Preis für Elektrochemische Kinetik ausgezeichnet, der von der GDCh-Fachgruppe Angewandte Elektrochemie, der Dechema, der Bunsen-Gesellschaft und der International Society of Electrochemistry verliehen wird.

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) gehört mit über 28.000 Mitgliedern zu den größten chemiewissenschaftlichen Gesellschaften weltweit. Sie hat 25 Fachgruppen und Sektionen, darunter die Fachgruppe Angewandte Elektrochemie mit knapp 400 Mitgliedern und die Fachgruppe Analytische Chemie, in deren Arbeitskreis Elektrochemische Analysenmethoden sich etwa 100 Mitglieder zusammengefunden haben. Besonders wichtig und zukunftsorientiert ist die Nachwuchsförderung: Studenten bietet die Fachgruppe Elektrochemie Stipendien für die Jahrestagung, Berufsberatung sowie Anreize zur wissenschaftlichen Arbeit durch die Vergabe des Fachgruppenpreises. In Gießen werden jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern drei Preise im Wert von insgesamt 3.000 Euro, finanziert durch die Firma Metrohm, für die besten Posterpräsentationen verliehen. Zur Information der interessierten Öffentlichkeit hat die Fachgruppe im vergangenen Jahr die GDCh-Broschüre „HighChem hautnah – Aktuelles aus der Elektrochemie und zum Thema Energie“ herausgegeben.

Kontakt:
Dr. Renate Hoer
Gesellschaft Deutscher Chemiker e. V. (GDCh) Öffentlichkeitsarbeit Postfach 900440
60444 Frankfurt
Tel.: 069/7917-493
Fax: 069/7917-307
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