Zülch-Preis 2003: Physiologie und Genese von Zellen

Zülch-Preisträger 2003 Prof. Dr. Fred H. Gage, Salk Institute for Biological Studies, La Jolla, California USA

Zum vierzehnten Mal vergibt die Gertrud Reemstma Stiftung den mit 50.000 Euro dotierten Zülch-Preis für besondere Leistungen der neurologischen Grundlagenforschung. Geehrt werden in diesem Jahr zwei Wissenschaftler, die herausragende Beiträge zur Aufklärung intrazellulärer Signalmechanismen und zur Erforschung der Neurogenese im Zentralnervensystem geleistet haben. Prof. Mikoshiba wird ausgezeichnet für seine Beiträge über die intrazellulären Signalmechanismen der Calcium-Homöostase und speziell für die Entdeckung des IP3-Rezeptors in den Purkinjezellen. Und Prof. Gage erhält die Auszeichnung für seine Arbeiten auf dem Gebiet der neuronalen Stammzell- und Gehirnreparationsforschung sowie für seine Studien zur Neurogenese im erwachsenen Zentralnervensystem, die unser Verständnis der Hirnplastizität revolutioniert haben.

Die Gertrud Reemtsma Stiftung, die von der Max-Planck-Gesellschaft treuhänderisch geführt wird, vergibt im Jahr 2003 bereits zum insgesamt vierzehnten Mal den für besondere Leistungen der neurologischen Grundlagenforschung gestifteten Klaus Joachim Zülch-Preis in Höhe von 50.000 Euro. Wie stets in den vergangenen Jahren wird der Preis auch diesmal wieder geteilt. Preisträger sind zu gleichen Teilen der Neurobiologe Prof. Dr. Dr. Katsuhiko Mikoshiba, Division of Molecular Neurobiology, Institute of Medical Science, University of Tokyo/Japan, und der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Fred H. Gage, Laboratory of Genetics, The Salk Institute, La Jolla, California/USA. Prof. Mikoshiba erhält die Auszeichnung „in Anerkennung seiner bahnbrechenden Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der molekularen Neurobiologie und seiner Beiträge zum intrazellulären Signalmechanismus der Ca2+ Homöostase, speziell für die Entdeckung der IP3 Rezeptoren in Purkinjezellen, sowie für seine Pionierarbeiten auf dem Feld der neuronalen Stammzelldifferenzierung“. Prof. Gage wird ausgezeichnet „in Anerkennung seiner herausragenden Arbeiten auf dem Gebiet der neuronalen Stammzell- und Gehirnregerationsforschung, für seine Beiträge zur Isolation, Expansion und Transplantation von neuronalen Stammzellen und für seine Studien zur Neurogenese im erwachsenen Zentralnervensystem, die das Verständnis der Hirnplastizität revolutioniert haben“.

Die Preisübergabe, die der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Prof. Dr. Peter Gruss vornimmt, findet am 12. September 2003 ab 10.00 Uhr im Isabellensaal des Kölner Gürzenich statt. Die Laudatio auf Prof. Mikoshiba hält Prof. Dr. Heinrich Betz, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/M, und als Laudator für Prof. Gage konnte Prof. Dr. Anders Björklund, Wallenberg Neuroscience Center, Lund/Schweden gewonnen werden.

Prof. Katsuhiko Mikoshiba, 1945 in Nagano/Japan geboren, studierte an der Keio University, an der er 1969 seinen Doktorgrad in Medizin erwarb und vier Jahre später auch zum Doctor of Medical Science (PhD) promoviert wurde. Von 1974 bis 1985 war er Assistant bzw. Associate Professor am Department of Physiologie an der Keio University School of Medicine – 1976/77 unterbrochen durch einen Forschungsaufenthalt am Pasteur Institut in Paris. Es schloss sich eine Professur an der Division of Regulation of Macromolecular Function, Institute for Protein Research, der Osaka University an (1985-1992). 1992 wurde Mikoshiba Chief Scientist am Labor für molekulare Neurobiologie des Riken-Instituts – eine Position, die er bis 1997 inne hatte (seither ist er dort noch Teamleiter am Laboratory for Developmental Neurobiology) und gleichzeitig wurde er an das Department of Molecular Neurobiology, Institute of Medical Science, der Universität Tokyo berufen, an der er bis heute tätig ist. Seit 1995 leitet er außerdem das Mikoshiba Calciosignal Net Project der Research Corporation of Japan und seit 2001 ist er Forschungsdirektor des Calcium Oscillation Project der Japan Science and Technology Corporation. Mikoshiba wurde mit vielen nationalen und internationalen Auszeichnungen und Ehrungen bedacht, darunter zweimal (1996 und 1999) mit dem Human Frontier Science Program Grant Award. Und 2000 wurde er vom American Biographical Institute zum „Man of the Year“ erkoren.

Mikoshibas Forschungen konzentrieren sich auf das im menschlichen Körper am reichlichsten vorhandene Metall: das Calcium. Grosse Mengen Calcium sind in den Knochen gespeichert, aus denen unser Skelett aufgebaut ist. Das hier ausgefällte Calcium steht im Gleichgewicht mit den Calciumionen im Gefäßsystem des Blutkreislaufs. Es gilt heute als erwiesen, dass Calciumionen (Ca2+) eine wichtige Rolle spielen für die physiologischen Funktionen der Zelle.

Die Ca2+-Konzentration außerhalb der Zelle ist 10 000 Mal so groß wie die des intrazellulären Ca2+. Nach traditionellen Vorstellungen kontrolliert die Plasmamembran einer Zelle vollständig den Ca2+-Durchgang Ca2+ darf nur dann in die Zelle eintreten, wenn dort ein Bedarf besteht. Neuere Forschungen zeigten jedoch, dass Ca2+ nicht nur von außen reguliert wird, sondern dass es auch eine interne Speicherregion gibt, die große Mengen an Ca2+ enthält. Die von der Zelloberfläche erkannten Signale werden in einen sekundären Botenstoff (second messenger) umgewandelt und an das Zytoplasma abgegeben. Als sekundären Botenstoff, der die Ca2+-Freisetzung aus dem zellinternen Speicher veranlasst, identifizierte man Inositoltriphosphat (IP3). Die Konsequenz aus dieser Entdeckung war die hypothetische Annahme, es müsse einen IP3-Rezeptor geben ein Molekül , das an der Ca2+-Freisetzung beteiligt ist. Viele Forscher haben versucht, die molekulare Natur dieses postulierten IP3-Rezeptors aufzuklären.

Es waren Mikoshiba und sein Team, die schließlich Ende der 1980er Jahre herausfanden, dass es sich bei dem IP3-Rezeptor um ein Protein mit hohem Molekulargewicht handelt. Beim Vergleich der Gehirne von Mausmutanten, die Abnormalitäten im Verhalten und in der Gestaltbildung (Morphogenese) aufwiesen, mit den Gehirnen normaler Tiere stellten sie fest, dass in den Purkinjezellen des Kleinhirns degenerierter Mäuse ein Mangel an diesem Protein P 400 herrscht. Das Protein wurde daraufhin analysiert und entpuppte sich als der IP3-Rezeptor es handelt sich um einen Calciumionen-Kanal, der involviert ist in die Freisetzung von Ca2+ aus den intrazellulären Speichern. Die Forscher klonten und identifizierten die vollständige Primärstruktur der cDNA dieses IP3-Rezeptors und entdeckten, dass das Ca2+ intrazellulär im glatten endoplasmatischen Retikulum einem wesentlichen Bestandteil im Plasma insbesondere von Drüsen-, Nerven- und Embryonalzellen gespeichert ist.

Alle Körperzellen zeigen sehr langsame Calcium-Oszillationen, die essentiell für die Zellfunktion sind. Mikoshiba und Mitarbeiter stellten fest, dass der IP3-Rezeptor eine wichtige Rolle spielt bei der Erzeugung dieser sehr langsamen Ca2+-Oszillationen im Inneren der Zelle. Die vielen einzigartigen molekularen Eigenschaften des IP3-Rezeptors, die ihn von anderen Calciumkanälen in der Plasmamembran unterscheiden, können zum Verständnis der molekularen Mechanismen dieser Calciumoszillationen beitragen.

Um herauszufinden, zu welchen Störungen ein Mangel an IP3 induzierter Ca2+-Freisetzung führt, wurde ein die Ca2+-Freisetzung hemmender monoklonaler Antikörper hergestellt und gesunden Tieren injiziert. Anschließend beobachteten die Forscher die Entwicklung dieser Tiere und zogen daraus Rückschlüsse auf die Funktion des IP3-Rezeptors. Zu den dabei gewonnen Erkenntnissen gehört, dass
– der IP3-Rezeptor eine bedeutsame Rolle spielt bei der Befruchtung sowie bei Zellteilungsschritten wie Reifeteilung (Meiose) und Verteilung je eines vollständigen Chromosomensatzes auf die neuen Tochterzellen (Mitose),
– ein aktives Ca2+-Freisetzungssignal wichtig ist für die Festsetzung der zum Rücken hin (dorsal) und bauchwärts (ventral) gerichteten Achsenbildung während der frühen Körperentwicklung,
– der IP3-Rezeptor bedeutsam ist für die normale Entwicklung der Gehirnfunktion – Mäuse mit einem IP3-Rezeptor-Mangel zeigen epileptische Anfälle sowie Kleinhirnataxie (Störung der willkürlichen Bewegungsabläufe, Tremor),
– der IP3-Rezeptor stark involviert ist in die neuronale Plastizität des Gehirns. So wird z.B. im Kleinhirn von Mäusen mit IP3-Rezeptor-Mangel die an der Gedächtnisbildung beteiligte Long term Depression (LTD) unterdrückt.

Prof. Fred H. Gage, 1950 in den USA geboren, studierte Medizin – zunächst an der University of Florida in Gainsville, wo er 1972 seinen Bachelor of Science erwarb. 1974 ging er als Predoctoral Fellow an die Johns Hopkins University in Baltimore, an der er 1976 im Fach Neurowissenschaften promoviert wurde. Zwischen 1976 und 1988 hatte er Associate Professuren inne an der Texas Christian University, am Department of Histology der Universität Lund in Schweden und am Department of Neurosciences der University of California in La Jolla. Seit Mitte 1988 ist er Professor an diesem Department und seit 1995 auch am Laboratory of Genetics des Salk Institute for Biological Studies. Gage wurde mit vielen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, darunter dem Bristol-Myers Squibb Neuroscience Research Award (1987), dem IPSEN Prize in Neuronal Plasticity (1990) sowie dem Max-Planck-Forschungspreis (1999) – und er gehört seit 2001 dem Institute of Medicine der National Academy of Sciences als Mitglied an.

Prof. Gage hat im Verlauf von zwei Jahrzehnten bahnbrechende Arbeiten auf den Gebieten Neuroregeneration und Neurotransplantation im Zentralnervensystem vorgelegt. Von besonderer Bedeutung ist seine Entdeckung multipotenter Stammzellen im Gehirn und im Rückenmark erwachsener Säugetiere. Die meisten Neurone im erwachsenen Zentralnervensystem sind vollständig ausdifferenziert und werden nach ihrem Absterben nicht ersetzt. Daraus resultierte das alte Dogma der Neurobiologie, wonach geschädigte oder abgestorbene Zellen im erwachsenen, „fertigen“ Hirn generell nicht durch neue Zellen ausgewechselt oder regeneriert werden.

Gage und seine Mitarbeiter konnten dieses Dogma entkräften: Sie fanden heraus, dass im erwachsenen Riechhirn (dem „Riechkolben“) und im Hippocampus eine zwar geringe, doch stetige Neubildung von Neuronen stattfindet. Die Stammzellen, aus denen diese neuen Hirnzellen entstehen, entdeckten die Wissenschaftler im Gebiet des so genannten Gyrus Dentatus, einer Region des Hippocampus. Nachkommen dieser Stammzellen differenzieren innerhalb eines Monats nach der Zellgeburt zu Neuronen. Diese späte Neurogenese hält während des ganzen Lebens eines Säugetieres an.

Man kann multipotente Stammzellen in einer Vielzahl von Gehirn- und Rückenmarkregionen „ernten“, kann sie genetisch modifizieren und zurück ins Hirn oder Rückenmark transplantieren, wo sie sich dann abhängig von der lokalen Umgebung zu reifen Gliazellen oder zu Neuronen entwickeln. Außerdem beeinflusst eine stimulierende Umwelt auch Vermehrung, Wanderung und Ausdifferenzierung dieser Zellen im lebenden Organismus. Gage und seine Mitarbeiter untersuchten sowohl die molekularen und zellulären als auch die von der Umwelt herrührenden Faktoren, welche die Zellteilungsrate im erwachsenen Hirn und Rückenmark regeln. Von den Proteinen, die Vermehrung, Fortbestehen und Differenzierung der von Erwachsenen gewonnenen Stammzellen regulieren, konnten die Forscher unlängst die ersten identifizieren. Und bezüglich der Umwelteinflüsse lernten sie aus Tierexperimenten, dass unter Stress die Rate der neugebildeten Nervenzellen sinkt, die Überlebensdauer der Nervenzellen hingegen ansteigt, wenn die Tiere in einer abwechslungsreichen Umgebung leben, und körperliche Bewegung zu einer Steigerung der Neurogenese führt.

Mit seinen Forschungsarbeiten verfolgt Prof. Gage das Ziel, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe Funktionsstörungen behoben werden können, die auf Zerstörungen im zentralen Nervensystem beruhen. Das aber kann nur gelingen, wenn man zuvor die grundlegenden neurobiologischen Prozesse der neuronalen Plastizität verstehen gelernt hat.

Die Gertrud Reemtsma Stiftung wurde 1989 von Gertrud Reemtsma im Gedenken an ihren verstorbenen Bruder, den Neurologen Prof. Dr. Klaus Joachim Zülch, ehemaliger Direktor der Kölner Abteilung für Neurologie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Frankfurt, mit dem Ziel gegründet, die Erinnerung an das Lebenswerk ihres Bruders wach zu halten und besondere Leistungen in der neurologischen Grundlagenforschung anzuerkennen und zu fördern. Gertrud Reemtsma war schon Ende der 1930er Jahre mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch in Verbindung gekommen: Klaus Joachim Zülch, der dort als Neuropathologe und Neurologe mit dem Begründer der deutschen Neurochirurgie, Prof. Dr. Wilhelm Tönnis, zusammenarbeitete, holte seine Schwester als Sekretärin an das Institut. Nach dem Krieg war Gertrud Reemtsma eine große Förderin der Max-Planck-Gesellschaft – und zwar nicht nur seit 1964 als Förderndes Mitglied der MPG, sondern auch über finanzielle Zuwendungen für die von ihrem Bruder geleitete Kölner Forschungsabteilung. Anfang 1996 verstarb sie im 80. Lebensjahr in Hamburg.

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Michael Globig Max-Planck-Gesellschaft

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de

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