Sozial aktiver Lebensstil bremst Rückgang intellektueller Leistung im Alter

Über einen Zeitraum von bis zu acht Jahren beobachteten Psychologen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 516 Personen im Alter von 70 bis über 100 Jahren in ihrer persönlichen Entwicklung. Zur Klärung der Frage, ob soziale Teilhabe alterungsbedingte Einbußen der intellektuellen Leistungsfähigkeit abschwächen kann, nutzten sie ein neuartiges statistisches Verfahren, mit dem die Wirkungsrichtungen zwischen sozialer Teilhabe und intellektueller Leistungsfähigkeit getrennt geschätzt werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass soziale Teilhabe dem altersbedingten Rückgang der intellektuellen Leistungsfähigkeit entgegenwirkt. Die Ergebnisse liefern erstmalig einen direkten empirischen Beleg für den Beitrag sozialer Faktoren zur Intelligenzentwicklung im Alter.

Seit längerem ist bekannt, dass soziale Teilhabe und geistige Leistungsfähigkeit im Alter positiv miteinander verknüpft sind: Ältere Erwachsene mit einem großen sozialen Netz und zahlreichen sozialen Aktivitäten sind im Durchschnitt kognitiv leistungsfähiger als ältere Erwachsene mit eingeschränktem sozialen Umfeld und wenig sozialer Aktivität. Ungeklärt war bislang die Einflussrichtung dieser korrelativen Beziehung. So könnte die positive Beziehung zwischen den beiden Bereichen allein darauf zurückgehen, dass Personen mit größeren kognitiven Leistungsvermögen stärker dazu neigen, sozial anregende Umwelten aufzusuchen. In diesem Fall würde von der sozialen Teilhabe selbst kein Einfluß auf die kognitive Alterung ausgehen.

Am MPI für Bildungsforschung gelang nun Ulman Lindenberger und Martin Lövdén (Mitarbeit: Paolo Ghisletta, Universität Genf) anhand von Daten der Berliner Altersstudie (Baltes & Mayer, 1999) der empirische Nachweis, dass zumindest im höheren und hohen Alter soziale Teilhabe den alterungsbedingten Rückgang in der Mechanik der Intelligenz aufhalten kann (Lövdén, Ghisletta & Lindenberger, 2005). Soziale Teilhabe wurde durch zwei Maße erfaßt: (a) das ?Yesterday-Interview“, mit dem die Zeitdauer ermittelt wurde, die die Probanden am Tag zuvor in sozialen Kontexten verbracht hatten (z.B. Besuche machen oder empfangen); (b) die ?Aktivitätsliste“, mit der die Anzahl unterschiedlicher sozialer Aktivitäten im vergangenen Jahr erfasst wurde (wie z.B. Restaurantbesuche, soziale Hobbies, kulturelle Veranstaltungen, Tanzen). Als Indikatoren der Mechanik der Intelligenz dienten zwei Tests der Wahrnehmungsgeschwindigkeit, in denen die Probanden gebeten wurden, visuelle Reize möglichst schnell miteinander zu vergleichen.

Der entscheidende Unterschied zu früheren Auswertungen vergleichbarer Datensätze bestand darin, dass die Daten an zwei miteinander vergleichbare statistische Modelle angepasst wurden, die jeweils unterschiedliche Wirkrichtungen repräsentieren. Dem ersten statistischen Modell lag die Annahme zugrunde, dass die Wahrnehmungsgeschwindigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt das Ausmaß an Veränderung in der sozialen Teilhabe von diesem bis zum nächsten Messpunkt vorhersagt. Ein derartiger Einfluß war nicht nachweisbar. Das zweite Modell postulierte hingegen, dass das Ausmaß an sozialer Teilhabe zu einem gegebenen Zeitpunkt das Ausmaß an Veränderung in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von diesem bis zum nächsten Messpunkt vorhersagt. Eine Wirkung in dieser Richtung war deutlich nachweisbar. Personen mit einem höheren Maß an sozialer Teilhabe zeigten im Laufe der acht Jahre einen geringeren Verlust an kognitiver Leistungsfähigkeit als Personen mit einem niedrigeren Ausmaß an sozialer Teilhabe.

Die vorliegenden Ergebnisse (die unterdessen an Datensätzen aus der Schweiz und Nordamerika repliziert wurden) unterstreichen die zentrale Bedeutung sozialer Faktoren für die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter. Zugleich werfen sie viele neue Fragen auf, da soziale Teilhabe, wie sie hier erfasst wurde, für ein sehr heterogenes Bündel von Einflüssen steht. Insbesondere ist zu vermuten, dass die Wirkung sozialer Teilhabe auf die kognitive Entwicklung am oberen und unteren Ende des Spektrums durch unterschiedliche Mechanismen vermittelt wird. Die schützende Funktion hoher sozialer Teilhabe besteht vermutlich in ihrer stimulierenden Wirkung auf Gehirn und Verhalten. Sehr niedrige soziale Teilhabe könnte hingegen mit Stress und Depressivität assoziiert sein. Für die Identifikation physiologischer Mechanismen, die die Wirkung der sozialen Teilhabe im einzelnen vermitteln, bedarf es weiterführender Untersuchungen, die Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit zu anatomischen, chemischen und funktionalen Veränderungen des Gehirns in Bezug setzen.

Literatur
Baltes, P. B., & Mayer, K. U. (1999). The Berlin Aging Study: Aging from 70 to 100. New York: Cambridge University Press.

Lövdén, M., Ghisletta, P., & Lindenberger, U. (2005). Social participation attenuates decline in perceptual speed in old and very old age. Psychology and Aging, 20, 423-434.

KONTAKT am MPI für Bildungsforschung:
Dr. Jürgen Baumgarten, Tel. 030 82406-284; baumgarten@mpib-berlin.mpg.de

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