Ausbau der Ganztagsschulen kommt voran, aber Studie bemängelt konzeptionelles Vakuum

Gute Rahmenbedingungen für individuelle Förderung vor allem in gebundenen Ganztagsschulen – flächendeckender Ausbau kostet jährlich 9,4 Milliarden Euro zusätzlich

Immer mehr Schulen in Deutschland stellen auf Ganztagsbetrieb um, aber es fehlen übergreifende Konzepte und Qualitätsstandards. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die das „Reformprojekt Ganztagsschule“ auf den Prüfstand stellt. Im Schuljahr 2010/11 machte mehr als jede zweite Schule Ganztagsangebote (51,1 Prozent).

Gegenüber dem Schuljahr zuvor bedeutet dies einen Anstieg um mehr als acht Prozent. Der Anteil der Schüler, die diese Ganztagsangebote nutzen, steigt dagegen vergleichsweise langsam, von 26,9 Prozent im Schuljahr zuvor auf nun 28,1 Prozent.

Zugang zu einer gebundenen Ganztagsschule, in der die Teilnahme am ganztägigen Unterricht für alle Schüler verbindlich ist, haben lediglich 12,7 Prozent der Schüler (Vorjahr: 11,9). Dieser Form der Ganztagsschule attestiert die Studie besonders große Möglichkeiten, das soziale und kognitive Lernen zu fördern.

„Die gebundene, für alle Schüler verbindliche Ganztagsschule bietet gegenüber der offenen Ganztagsschule die besseren Rahmenbedingungen, um jedes Kind individuell zu fördern“, sagte Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung. Zudem sei es einfacher, Konzentrations- und Entspannungsphasen abzuwechseln und den starren 45-Minuten-Takt aufzubrechen.

Die gebundene Ganztagsschule ist zugleich der teuerste Schultyp unter den Ganztagsmodellen. In einer zweiten aktuellen Studie hat der Essener Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm für die Bertelsmann Stiftung berechnet, dass die Länder 9,4 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr investieren müssen, wenn alle Schüler ganztägig unterrichtet werden. Der größte Teil dieser Zusatzkosten entfiele auf die Länder Nordrhein-Westfalen (2,0 Mrd.), Bayern (1,7 Mrd.) und Baden-Württemberg (1,4 Mrd.).

Damit die Ganztagsschule ihr Potenzial ausschöpfen kann, nennt die DJI-Studie drei wesentliche Faktoren: Erstens eine regelmäßige Teilnahme aller Schüler, zweitens eine hohe Qualität der Lernangebote und drittens eine Einbettung in kommunale Bildungslandschaften – also die Zusammenarbeit etwa mit Kindertagesstätten, anderen Schulen, Ausbildungsbetrieben, Musikschulen und Sportvereinen.

Um dem quantitativen und qualitativen Ausbau den nötigen Nachdruck zu verleihen, spricht sich Dräger für einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz aus. „Jedes Kind in Deutschland sollte die Möglichkeit haben, eine gebundene Ganztagsschule zu besuchen. Mehr Ganztagsschulen alleine helfen allerdings nicht. Wir müssen auch dringend das konzeptionelle Vakuum überwinden, das die Ganztagsschule heute noch umgibt“, sagte Dräger. Der weitere Ausbau solle sich am Leitbild der individuellen Förderung orientieren, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern. „Sonst werden die Potenziale der Ganztagsschule weitgehend verschenkt“, so Dräger.

Bildungsforscher Prof. Thomas Rauschenbach bemängelt als Autor der DJI-Studie, der bisherige Ausbau sei „eine Reise in die Zukunft ohne klares Ziel“. Der Ausbau der Ganztagsschulen, eines der größten Reformprojekte im Bildungswesen, hat bislang höchst unterschiedliche Organisationsformen und Typen hervorgebracht: Offene, gebundene oder teilgebundene Ganztagsschulen, also mit freiwilliger bis verpflichtender Teilnahme, variieren erheblich in Zeitstruktur, Kooperationen, Angeboten und individueller Förderung.
Auch beim quantitativen Ausbau bestehen große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Die meisten Ganztagsschulen gibt es in Sachsen mit 96,5 Prozent aller Schulen. Dort nutzen mit 73,3 Prozent auch die im Ländervergleich meisten Schüler entsprechende Angebote. Die wenigsten Ganztagsschulen weist Sachsen-Anhalt mit 24,6 Prozent aller Schulen auf. Den deutschlandweit geringsten Anteil von Schülern, die ganztägig zum Unterricht gehen, hat Bayern mit 10,5 Prozent.

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Ute Friedrich idw

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