Soziales Verhalten durch Mobilität

Komplexe Gesellschaften funktionieren nur dann, wenn sich ihre Mitglieder bis zu einem gewissen Grad kooperativ verhalten. Das gilt insbesondere für den Umgang mit der Umwelt und noch mehr für solidarische Systeme wie die Sozialversicherungen. Wie kann man ihr Funktionieren sichern, selbst wenn jeder zuerst an sich selbst denkt? Das ist eine zentrale Frage, die sich Wissenschaft und Politik gleichermassen stellen. In der politischen Realität versucht man oft, die egoistische Ausbeutung von Kollektivgütern durch verstärkte Kontrolle und Überwachung zu verhindern. Neuste Forschungsergebnisse von Sozialwissenschaftern der ETH Zürich weisen jedoch darauf hin, dass es auch andere Lösungsansätze gibt, um kooperatives Verhalten zu fördern und den darauf auf-bauenden Sozialsystemen Stabilität zu verleihen.

Wie Kooperation mehrheitsfähig machen?

Die Computersimulationen der ETH-Forscher um Dirk Helbing, Professor für Soziologie, arbeiten mit dem in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oft verwendeten Modell des sogenannten Prisoner's Dilemmas (bzw. Gefangenendilemmas, siehe Kasten). Das Modell beschreibt Situationen, in denen sich Individuen normalerweise nicht kooperativ verhalten, obwohl dies langfristig für alle Beteiligten am besten wäre.

Das Computermodell der ETH-Forscher simuliert, wie Individuen auf einem bestimmten Territorium leben und in der sozialen Interaktion mit ihren Nachbarn immer abwägen, welches Verhalten ihnen selber zum eigenen Vorteil gereichen könnte. Entsprechend passen sie ihr Verhalten ständig an ihre Umgebung an. Die Herausforderung besteht darin, ein System, in dem zunächst niemand kooperiert, in ein solches zu überführen, in dem sich kooperatives Verhalten mehrheitlich durchsetzt.

Erfolgsorientierte Mobilität

Die ETH-Simulation zeigt: Der aus anderen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bekannte Mechanismus der Nachahmung alleine konnte der Kooperation nicht zum Durchbruch verhelfen – im Gegenteil. Wenn es am Anfang noch kooperative Individuen gab, so versuchten sich am Ende alle gegenseitig auszutricksen. Ebenso wenig konnte man dies mit einem zweiten Mechanismus erreichen: der erfolgsorientierten Mobilität. Darunter verstehen die Forscher den Versuch der Individuen, sich räumlich oder sozial zu verbessern, indem sie z.B. in eine angenehmere Nachbarschaft ziehen oder sich ein besseres Arbeitsumfeld suchen. „Das wirklich Erstaunliche an unseren Simulationen ist, dass sich das Blatt durch eine Kombination beider Mechanismen vollständig ändert“, so Dirk Helbing. Mit anderen Worten: Wenn die Individuen erfolgsversprechende Strategien ihrer Interaktionspartner imitieren und sich gleichzeitig ihr soziales Umfeld aussuchen können, setzt sich kooperatives Verhalten als dominantes Muster durch (siehe dazu das Simulationsvideo).

Was heisst das nun in der Praxis für die gebeutelten Sozialversicherungen und die kontrovers diskutierte Migration? Helbing zufolge zeigen die neuesten Forschungsresultate, dass räumliche und soziale Mobilität wichtige Voraussetzungen für die Entstehung und Verbreitung sozialen Verhaltens sind, weil Individuen ein kooperatives Umfeld bevorzugen, wenn sie die Wahl haben. Dies wiederum ist entscheidend für das Funktionieren von Solidargemeinschaften. Überträgt man das Modell auf reale Problemstellungen, so würde es implizieren, dass die Konkurrenz von Krankenkassen um Patienten über unterschiedliche Beitragssätze und Versicherungsleistungen besser funktionieren sollte als ein gemeinsamer Gesundheitsfonds, wie er gerade in Deutschland geschaffen wurde. Auch sollte Migration positive Begleiterscheinungen haben, wenn die Betroffenen sozial gut integriert sind. Bei solchen komplexen gesellschaftlichen Fragestellungen kommen jedoch noch weitere Faktoren ins Spiel, die Gegenstand zukünftiger Forschung sein werden.

Kontakt:

ETH Zürich
Prof. Dirk Helbing
Professur für Soziologie
Tel +41 44 632 88 80
dirk.helbing@gess.ethz.ch
Das Gefangenendilemma (Prisoner's Dilemma)
Das so genannte Gefangenendilemma ist ein Modell der Spieltheorie, das in den 50er Jahren entwickelt wurde. Im Allgemeinen beschreibt es Situationen, in denen zwei Individuen miteinander interagieren und die Wahl haben, zu kooperieren oder nicht. Grundsätzlich ist es besser, wenn beide kooperieren, als wenn es beide nicht tun. Aber noch besser fährt man, wenn der andere kooperiert, aber man selber nicht. In diesem Falle steht der andere am schlechtesten da. Kooperation ist also risikoreich und man ist gleichzeitig versucht, sich einen Vorteil zu verschaffen, in dem man nicht kooperiert.

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Roman Klingler idw

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