Solarbetriebene Meeresschnecken nutzen funktionstüchtige Chloroplasten aus Algen als Nahrungsvorrat

Elysia timida: Eine im Mittelmeer lebende Schnecke, die mehrere Monate ohne Algennahrung auskommen und dann nur von den aus den Algen eingelagerten Chloroplasten im Verdauungstrakt überleben kann. Foto: Heike Wägele, ZFMK<br>

Die Schnecken können ohne Sonnenlicht dank der Chloroplasten lange Zeiten hungern, ohne zu sterben, wie ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Prof. Dr. Heike Wägele, Stiftung zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere in Bonn jetzt in der renommierten Zeitschrift Proceedings of the Royal Society jetzt veröffentlichte.

Gregor Christa erhielt für die Ergebnisse und deren Vorstellung einen Preis für die interessanteste Forschung und deren Präsentation.

Innerhalb der Meeresschnecken gibt es die Gruppe der Sackzüngler (Sacoglossa), deren unspannend klingender Name zunächst nicht vermuten lässt, dass sie Evolutionsbiologen und Pflanzenphysiologen ein großes Rätsel aufgibt. Diese kleine Gruppe von Schnecken mit knapp 300 beschriebenen Arten saugt Algen aus. Allerdings lagert sie deren funktionelle Chloroplasten in Zellen des Verdauungstraktes ein, anstatt die Nahrung komplett zu verdauen. Die Chloroplasten bleiben bei diesem Vorgang photosynthetisch aktiv. Die Schnecken können auf Grund dieser noch funktionierenden „Kleptoplasten“ (gestohlene Plastiden) Wochen bis Monate ohne weitere Nahrungsaufnahme auskommen. Ein angepasstes Verhalten der Schnecken führt dazu, dass die Chloroplasten außerhalb ihres ursprünglichen Lebewesens lange Zeit als Nahrungsreservoir funktionstüchtig gehalten werden.

Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Heike Wägele, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere in Bonn untersucht seit einigen Jahren die Evolution dieses einzigartig im Tierreich vorkommenden Phänomens. Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. William F. Martin an der Universität Düsseldorf konnte sie kürzlich klären, dass kein horizontaler Gentransfer zwischen den Algen und den Schnecken stattgefunden hat. Dieser wurde jahrelang postuliert um zu erklären, warum geklaute Chloroplasten mit geringer genetischer Ausstattung trotzdem Monate lang funktionieren können. Mit einer 2011 erschienenen Publikation (Wägele et al. 2011) brach nicht nur für die Wissenschaftler ein Mythos zusammen, da dieser potentielle Fall von horizontalem Gentransfer von einem mehrzelligen Pflanzenorganismus in einen mehrzelligen tierischen Organismus einzigartig gewesen wäre. Dieser Mythos war so faszinierend, dass die Schnecken auch regelmäßig ein Thema für Evolution in der Oberstufe unserer Schulen war.

Nun forschen die beiden Arbeitsgruppen an alternativen Modellen, die die Langlebigkeit der Chloroplasten und Schnecken erklärt. Zahlreiche Untersuchungen am ZFMK haben bereits gezeigt, dass das Verhalten der Tiere, insbesondere die Vermeidung von zu viel Licht, zu einer Schonung der Chloroplasten beiträgt. In einem weiteren wichtigen Puzzlestein konnte der Doktorand Gregor Christa aus der Arbeitsgruppe Wägele kürzlich über Photosyntheseblocker und Hälterung im nicht photosynthetisch aktiven Licht zeigen, dass die Schnecken sehr lange überleben, auch wenn sie nicht photosynthetisch aktiv sein können. Gleichzeitig haben die Forscher aber bestätigt, dass die Chloroplasten tatsächlich noch aktiv Kohlenstoff fixieren können. „Ich gehe bereits seit einiger Zeit davon aus, dass die Chloroplasten eher wie ein Nahrungsdepot funktionieren“ erläutert Wägele. Sie vergleicht die Einlagerung mit einem reich gedeckten Tisch. Auch wir können nur eine begrenzte Menge essen, der Rest wird vernichtet. Wenn allerdings die nicht verkonsumierten Lebensmittel in einem Kühlschrank eingelagert werden (oder wie bei den Schnecken nicht sofort im Verdauungstrakt verdaut werden), dann haben wir viel länger davon. Wenn dann noch zusätzlich der Inhalt des Kühlschranks wie ein Hefeteig weiter wächst (oder wie bei den Schnecken die Chloroplasten weiter über ihre Aktivität Speicherstoffe aufbauen), dann steigert dies natürlich noch die Überlebensfähigkeit.

Gregor Christa hat für die seine Ergebnisse und deren Vorstellung auf der internationalen Tagung World Congress of Malacology 2013 auf den Azoren einen Preis für die interessanteste Forschung und deren Präsentation erhalten. Die gemeinsam mit den Düsseldorfer Forschern erst kürzlich veröffentlichten Ergebnisse erregten auch in der wissenschaftlichen Presse großes Interesse. So erschienen Beiträge darüber in Nature unter der Rubrik News and Comments, in National Geographic unter der Rubrik Phenomena und in ScienceNews.

Zu den Fotos: Die grüne Farbe der Schnecken wird durch die Kleptoplasten, also durch die „gestohlenen Plastiden“ hervorgerufen.

Quellen:
1. Christa G, Zimorski V, Woehle C, Tielens AGM, Wägele H, Martin W, Gould SB (2014). Plastid-bearing sea slugs fix CO2 in the light but do not require photosynthesis to survive. Proceedings of the Royal Society B: Biology. 2013 online first: http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/281/1774/20132493

2. Wägele H, Deusch O, Händeler K, Martin R, Schmitt V, Christa G, Pinzger B, Gould SB, Dagan T, Klussmann-Kolb A, Martin W (2011) Transcriptomic evidence that longevity of acquired plastids in the photosynthetic slugs Elysia timida and Plakobrachus ocellatus does not entail lateral transfer of algal nuclear genes. Mol Biol Evol. 28: 699-706. (online 2010)

Ansprechpartner:
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Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere hat einen Forschungsanteil von mehr als 75 %. Das ZFMK betreibt sammlungsbasierte Biodiversitätsforschung zur Systematik und Phylogenie, Biogeographie und Taxonomie der terrestrischen Fauna. Die Ausstellung „Unser blauer Planet“ trägt zum Verständnis von Biodiversität unter globalen Aspekten bei.

Zur Leibniz-Gemeinschaft gehören zurzeit 89 Forschungsinstitute und wissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen für die Forschung sowie drei assoziierte Mitglieder. Die Ausrichtung der Leibniz-Institute reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute arbeiten strategisch und themenorientiert an Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung Bund und Länder fördern die Institute der Leibniz-Gemeinschaft daher gemeinsam. Näheres unter www.leibniz-gemeinschaft.de.

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