IMK: Wird Deutschlands Wachstumspotenzial unterschätzt? Qualität von Berechnungen unzureichend

Die Qualität der Potenzialberechnungen ist allerdings unzureichend. Das ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Methodische Probleme und Ungenauigkeiten seien so gravierend, dass die üblichen Potenzialberechnungen „als wirtschaftspolitische Orientierung ungeeignet sind“, resümieren PD Dr. Gustav A. Horn und Dr. Silke Tober im IMK Report, der am heutigen Mittwoch erscheint.

Als „Produktionspotenzial“ bezeichnet die Wirtschaftswissenschaft das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das eine Volkswirtschaft nachhaltig – ohne steigende Inflation – erreichen kann. Die „Produktionslücke“ misst die Abweichung des tatsächlichen BIP vom Produktionspotenzial. Sie zeigt damit an, ob die Produktionskapazitäten ausgelastet sind. Auf den ersten Blick scheinen diese Kennzahlen für die Wirtschaftspolitik hilfreich zu sein: Befürchtet etwa die Zentralbank eine zu hohe Inflation durch konjunkturelle Überhitzung, kann sie die Zinsen anheben und damit das Wirtschaftswachstum bremsen.

In der Praxis taugt das Konzept des Potenzialwachstums jedoch nicht für solche Vorhersagen, zeigt die IMK-Studie. Denn Angaben zur Produktionslücke schreiben letztlich nur die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit fort. Weicht die Konjunktur eines Landes stark von der bisherigen Entwicklung ab, ändert sich die Schätzung nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit.

Besonders plastisch zeigt sich diese Unzulänglichkeit am Beispiel Deutschlands, wo die Wirtschaft seit 2000 über Jahre kaum wuchs. Im Frühjahr 2000 bezifferte der Internationale Währungsfonds (IWF) die Produktionslücke für 1999 mit minus 2,8 Prozent; die Produktionskapazitäten waren also nicht ausgelastet. Nach neuer Berechnung im Frühjahr 2006 lag die Lücke 1999 jedoch bei 0,1 Prozent – nicht nur ein Unterschied von fast drei Prozentpunkten, sondern auch eine Umkehr des Vorzeichens. Ähnlich waren die Ergebnisse für 2001.

Die Untersuchung des IMK zeigt: Der Grund für solche drastischen Revisionen sind weder Irrtümer noch Veränderungen bei den vom Statistischen Bundesamt gelieferten Daten. Das eigentliche Problem ist das Auseinanderklaffen von komplexer Theorie und stark vereinfachenden statistischen Methoden. Die Verfahren lassen sich auch nicht verbessern. Der Versuch der Wissenschaftler, auf Basis einer Fehleranalyse und einer ökonomisch fundierteren Schätzung zu verlässlicheren Ergebnissen zu gelangen, brachte keinen Erfolg.

„Angesichts der ungelösten Schwierigkeiten, ein belastbares Wachstumspotenzial empirisch zu ermitteln, muss die Wirtschaftspolitik lernen, ihre Ziele ohne eine solche Größe zu erreichen“, empfehlen die IMK-Wissenschaftler. Stattdessen sollte sie sich an Indikatoren wie der Lohnstückkostenentwicklung orientieren, die verlässlicher aufzeigen, ob der Preisstabilität Gefahren drohen oder nicht. So wuchsen in Deutschland die Lohnstückkosten zwischen 2000 und 2005 durchschnittlich nur um 0,2 Prozent. Der geringe Anstieg habe Raum für eine expansivere Wirtschaftspolitik als die tatsächlich umgesetzte signalisiert, analysiert das IMK. Die Orientierung an der Lohnstückkostenentwicklung könne dazu beitragen, dass sich „eine positive Selbstverstärkung“ herausbilden könne mit sinkender Arbeitslosigkeit, steigender Erwerbsbeteilungsquote, zunehmendem Produktivitätswachstum und soliden Staatsfinanzen.

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