Die Wirtschaft produziert vor allem eines: Knappheit!

Ein Markt ist mehr als ein Ort, wo Waren und Dienstleistungen gehandelt werden. „Auf einem Markt beobachten sich die Konsumenten gegenseitig, um sich dann entweder mit Geiz oder Prestige zu überbieten“, sagt Dirk Baecker, Soziologieprofessor an der Universität Witten/Herdecke. In seinen Forschungen zur Wirtschaftssoziologie, die jetzt auch in Buchform vorliegen, betont Baecker vier Einsichten, mit denen sich die Wirtschaftssoziologie vom herrschenden Wissen der Wirtschaftswissenschaften unterscheidet.

Lange Zeit war von der Wirtschaftssoziologie wenig zu hören, von den Wirtschaftswissenschaften dafür umso mehr. Doch mittlerweile erlebt die soziologische Beschäftigung mit der Wirtschaft einen wahren Boom. Das gilt vor allem für die Soziologie des Konsums, der Finanzmärkte und der Unternehmensorganisation. Das gilt allerdings weniger für eine eigenständige soziologische Theorie der Wirtschaft allgemein. Diesem Forschungsgebiet widmet sich Dirk Baecker, und er hebt hervor, dass die Wirtschaft aus soziologischer Sicht in der Gesellschaft vor allem eine Funktion erfüllt: die Kommunikation von Knappheit.

Das ist die erste Einsicht, mit der sich die Wirtschaftssoziologie von den Wirtschaftswissenschaften unterscheidet. Denn während die Wirtschaftswissenschaften die Knappheit von Waren und Dienstleistungen, Arbeit und Kapital, Organisation und Informationen als naturgegeben ansehen, hält die Wirtschaftssoziologie diese Knappheit für hausgemacht. „Wir müssen zuallererst dazu gebracht werden, etwas für knapp zu halten, bevor wir darüber nachdenken, ob wir uns möglicherweise an seiner Produktion beteiligen oder uns um Ressourcen bemühen, um es erwerben zu können“, erläutert Baecker.

Zweitens beobachtet die Wirtschaftssoziologie nicht nur den Siegeszug des Geldes in der Gesellschaft, sondern auch die Geschichte der Einschränkung der Reichweite des Geldes als Voraussetzung dieses Siegeszuges. Die Gesellschaft akzeptiert den Zugriff auf als knapp kommunizierte Güter und Dienstleistungen nur dann, wenn bestimmte Sachverhalte diesem Zugriff entzogen werden. Das gilt historisch für das Seelenheil (die Reformation protestiert gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche), für den Ämterkauf (die Demokratisierung führt den Begriff der Korruption ein) und für die Liebe (man unterscheidet die passionierte von der käuflichen Liebe). Und es gilt noch heute für die Kinderarbeit, den Organhandel und die Bildung.

Bei ihrer dritten Einsicht räumt die Wirtschaftssoziologie mit dem Mythos auf, der Markt sei jener Ort, an dem die Produzenten die Konsumenten beobachten und die Konsumenten die Produzenten. Vielmehr sind Märkte jene Orte, an denen Produzenten Produzenten und Konsumenten Konsumenten beobachten. Der Markt ist eine Art Spiegel, in dem man die eigenen Konkurrenten beobachtet, um sie entweder mit Qualität zu überbieten oder mit dem Preis zu unterbieten, wenn man ein Produzent ist, beziehungsweise entweder mit Geiz oder mit Prestige zu überbieten, wenn man ein Konsument ist. Dirk Baecker: „Auf dem Markt werden Konflikte rivalisierender Imitation ausgetragen; und das ist der ‚einfache' Mechanismus, auf dem die Komplexität der Wirtschaft beruht.“

Schließlich und viertens fragt die Wirtschaftssoziologie danach, wie es der Wirtschaft gelingt, einen großen Teil der Weltbevölkerung mit Waren und Dienstleistungen zu versorgen, während sie so blind ist für Armut, Arbeitslosigkeit und ökologische Gefahren. Hier verweist Baecker auf Max Weber, der mit seiner Definition des Wirtschaftens als „friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt“ die Paradoxie bereits auf den Punkt gebracht hat. Arbeit, Kapital und Organisation machen sich die Welt zwar untertan. „Aber diese Unterwerfung“, so Baecker, „ist mit einem Versprechen auf Wohlfahrt und Erfolg kombiniert, das uns dazu bringt, uns friedlich in dieses Reich der Notwendigkeit zu fügen.“

Aber ist der Einfluss der Wirtschaft auf unser Leben wirklich so allumfassend? Nein, sagt Dirk Baecker. Die Wirtschaft sei keine Schicksalsmacht, die sich der finsteren Gewinngier der Menschen bemächtigt, um sie gleichsam von außen auszubeuten. „Im Medium der Wirtschaft setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie wir Knappheit erleben und wie wir auf sie reagieren. Man nennt es nicht mehr unbedingt ‚Askese' oder ‚Luxus', aber nach wie vor schwanken unsere ganz persönlichen Modelle im Umgang mit den Knappheiten der Wirtschaft zwischen genau diesen beiden Polen. Was den einen ihr Palast ist, ist den anderen ihre Mönchszelle – wichtig nur, dass man jemanden findet, der sich davon beeindrucken lässt.“

Literatur: Dirk Baecker: Wirtschaftssoziologie, Bielefeld: transcript Verlag, 2006, 188 S., 15 Euro

Weitere Infos: Prof. Dr. Dirk Baecker, Lehrstuhl für Soziologie, 02302/926-500, dbaecker@uni-wh.de

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Siegrun Pardon Universität Witten/Herdecke

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