Wie erreicht man die Schwächsten der Gesellschaft? Krankenversicherung in den USA mit Zukunftscharakter für uns

Millionen Kinder und Erwachsene nicht oder nicht ausreichend krankenversichert, in einem der reichsten Länder der Welt: meist müssen die USA nur als abschreckendes Beispiel herhalten, doch lohnt sich ein genauerer Blick. Denn auch dort wird heftig um eine Verbesserung des Systems gerungen, und oft beschäftigen sich die besten Köpfe damit. In einer aktuellen Studie kooperierte der Nobelpreisträger und Ökonom Professor Dr. Daniel McFadden von der University of California, Berkeley, auch mit zwei LMU-Forschern: Professor Joachim Winter und Dr. Florian Heiss am Department für Volkswirtschaftslehre der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München haben dabei gemeinsam mit McFadden und weiteren amerikanischen Kollegen ein neues Programm innerhalb der amerikanischen Sozialversicherung untersucht, das die Gesundheitsversorgung der Schwächsten der Gesellschaft verbessern soll. Anhand einer Befragung von Versicherungsberechtigten und Analysen des Programms kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass dieser so genannte „Plan D“ grundsätzlich zu befürworten ist, wie in der aktuellen Ausgabe der „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) berichtet wird. Äußerst problematisch aber sei, dass viele Personen mit geringem Einkommen, sehr schlechter Gesundheit oder eingeschränkten geistigen Fähigkeiten von den komplexen Wahlmöglichkeiten des „Plan D“ überfordert seien. Sie könnten sich deshalb gegen eine Teilnahme entscheiden, obwohl gerade sie davon profitieren würden. „Eine ähnliche Situation wird wahrscheinlich auch in Deutschland entstehen“, so Winter. „Es ist absehbar, dass auch hierzulande mehr und mehr Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliedert und privat versichert werden müssen.“

Personen über 65 und solche mit bestimmten schweren Erkrankungen oder Behinderungen sind in den USA über das Krankenversicherungsprogramm „Medicare“ versichert, welches bislang aber keine Medikamente abdeckte. Ihnen steht seit Jahresbeginn auch der „Plan D“ für verschreibungspflichtige Medikamente offen. Die Forscher kommen in der Studie zu dem Schluss, dass auch tatsächlich fast alle älteren Versicherten angesichts der günstigen Bedingungen von dem neuen Programm profitieren werden, selbst wenn sie momentan keine verschreibungspflichtigen Medikamente nutzen. Die Teilnahme ist aber nicht verpflichtend. Jeder Berechtigte muss sich selbst aktiv für einen der im Rahmen des Programms von privaten Versicherern angeboten Versicherungspläne entscheiden. Diese Verträge müssen zwar bestimmte Mindeststandards erfüllen, sie unterscheiden sich jedoch in zahlreichen Leistungsbestandteilen und auch den Prämien. Die Entscheidungssituation ist für den Einzelnen damit sehr komplex. Noch bis zum 15. Mai läuft die Frist, um sich zwischen den „Plan D“-Angeboten privater Versicherer zu entscheiden. Dann aber wird es teurer: Jeder weitere Monat, den der Versicherte mit der Einschreibung wartet, erhöht den künftig zu bezahlenden Versicherungsbeitrag. Dazu kommt die Gefahr, dass Medikamente für schwere – und damit außerordentlich teuere – Erkrankungen nicht abgedeckt sind, wenn der Einschreibungstermin verpasst wird.

Für ihre Studie befragten die Forscher im November 2005 eine Stichprobe von rund 2000 „Medicare“-Versicherten, also kurz bevor „Plan D“ zur Einschreibung offen stand. Der älteste Befragte war 97 Jahre alt. Erhoben wurden Angaben zu bestehenden Erkrankungen, zur Nutzung verschreibungspflichtiger Medikamente und zu ihren Absichten in Bezug auf eine Teilnahme an dem neuen „Plan D“-Programm. Bereits in vorangegangenen Arbeiten hatte McFadden gezeigt, dass Menschen oft nicht realistisch bewerten, wie viel Geld sie für die Zeit der Rente benötigen und oft durch Wahlmöglichkeiten überfordert sind. Deshalb werden in vielen Fällen Entscheidungen getroffen, die dem eigenen Interesse zuwiderlaufen. Für seine Forschung zu neuen Theorien und Analysemethoden der Konsumentenwahl wurde McFadden im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Auch die jetzt vorliegende Studie bestätigt, dass Individuen die aktuelle Lage bei Entscheidungen mit langfristigen Konsequenzen oft überbewerten: Versicherte mit aktuell geringen Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente tendieren eher dazu, nicht „Plan D“ beizutreten – ohne eine mögliche Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation zu berücksichtigen.

Viele ältere Versicherte dürften zudem durch die komplexen Wahlmöglichkeiten so verunsichert werden, dass sie die Frist des 15. Mais verpassen werden, vermuten die Forscher. Diese Problematik sollte auch in Deutschland von Politikern und Gesundheitsökonomen berücksichtigt werden. Die Wahlmöglichkeiten und damit die intellektuelle Herausforderung für den Einzelnen werden zunehmen, wenn Leistungen von privaten Anbietern übernommen werden, die bislang von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden. „Die Entscheidungsprobleme, die nun in den USA untersucht wurden, werden damit in ähnlicher Form auch vielen Deutschen betreffen“, so Winter. „Wir werden deshalb in einem neuen Forschungsprojekt die Übertragbarkeit der in den USA gewonnen Ergebnisse und der dort verwendeten empirischen Methoden auf Deutschland untersuchen.“ (suwe)

Ansprechpartner:
Professor Dr. Joachim Winter
Institut Volkswirtschaftslehre der LMU
Tel.: 089-2180-2459
Fax: 089-2180-3954
E-Mail: joachim.winter@lrz.uni-muenchen.de

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Luise Dirscherl idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-muenchen.de/

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