Ein Stuhl für den Rücken: "Spinemover" soll der Wirbelsäule helfen

Die Fachgebiete Arbeitswissenschaften (Prof. Dr. Peter Kurtz) und Biomechatronik (Prof. Dr. Hartmut Witte) der TU Ilmenau arbeiten an der Weiterentwicklung von Strategien für die Vermeidung von Erkrankungen der Wirbelsäule, des Rückens und – wie man es heute sieht – des Rumpfes. Ein „Spinemover“ getaufter Stuhl, in allen drei Raumdimensionen zyklisch beweglich, soll Wirbelsäulenschäden vorbeugen.

Das in Ilmenau entwickelte Konzept APALYS zur einfachen statisch-biomechanischen Analyse von typischen arbeitsbedingten Haltungen ist in den letzten Jahren bereits selbstverständliches Werkzeug im Alltag von Ergonomen und Arbeitsmedizinern geworden. In Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum Interdisziplinäre Prävention KIP an der Friedrich-Schiller-Universität Jena werden die Konzepte der Vorsorge von Rückenerkrankungen Stück für Stück um Aspekte der Dynamik, der Muskelphysiologie und der Koordination erweitert. Einen aktuellen industrieorientierten „Spin-Off “ zeigt diese Grundlagenforschung nun in einer Produktidee, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einen „Innovationspreis Medizintechnik“ ausgezeichnet wurde und in den nächsten zwei Jahren eine Förderung in Höhe von 173.000 Euro mit sich bringt.

Unter Koordination durch das Fachgebiet Biomechatronik der TU Ilmenau wird ein Team, bestehend aus der Erfinderin Gisela Schon aus Langerwehe bei Aachen und Wissenschaftlern der Universitäten Ilmenau, Jena und Saarbrücken einen dreidimensional bewegten Sitz für gehbehinderte oder gehunfähige Menschen entwickeln. Aufgabe des gemeinsam zu entwickelnden Gerätes soll es sein, Rückenschmerzen zu lindern bzw. ihnen vorzubeugen. Auch bei nicht behinderten Arbeitnehmern, die sich als LKW-Fahrer, Lokomotivführer oder Büromitarbeiter berufsbedingt wenig bewegen, könnte ein solcher Sitz den lästigen Rückenbeschwerden Einhalt gebieten.

Das Team schafft in den kommenden zwei Jahren die konstruktiven Grundlagen für einen Stuhl, dessen Sitzfläche in allen drei Raumdimensionen zyklisch bewegt wird. Auf diese Weise soll das natürliche Bewegungsmuster des Beckens beim Gehen auf Rumpf und Rücken übertragen werden. Ziel ist es, durch diese Bewegungen Rückenschmerzen zu lindern und ihnen vorzubeugen. Insbesondere gehunfähige oder gehbehinderte Menschen würden von einem solchen automatischen Stuhl, den das Team „Spinemover“ getauft hat, profitieren.

Bevor es jedoch zum Design und einer exakten technischen Auslegung dieser neuartigen Sitzgelegenheit kommt, liegt einiges an Grundlagenforschung vor den Wissenschaftlern. Zunächst muss die Frage geklärt werden, ob die individuelle Beckenbewegung beim Gehen aus der Körpergröße oder anderen biometrischen Daten abgeleitet werden kann, denn das Feststellen des natürlichen Gangbildes ist bei gehbehinderten oder gehunfähigen Patienten nicht möglich. Also wird in einem ersten Schritt an der Universität des Saarlandes im Fachbereich Humanbiologie das individuelle Gangbild von 100 weiblichen und 100 männlichen gesunden Probanden vermessen. Insbesondere die Relativbewegungen von Beckenring und Schultergürtel werden registriert. In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob der Spinemover mit Hilfe mechatronischer Module in der Lage ist, bei sitzenden Probanden die gleichen Rumpfbewegungen wie das eigene Gehen zu provozieren. Erst wenn das Verfahren hierbei sein Können unter Beweis gestellt hat, werden für gehbehinderte Patienten erste klinische Tests an der Klinik für Orthopädie der Universität Jena angeboten.

Dabei ist der potentielle Nutzerkreis groß: Neben Menschen, die dauerhaft gehunfähig sind, kann der Spinemover nach Überzeugung des Entwicklerteams auch bei der Rehabilitation von Patienten eingesetzt werden, die eine Hüft- oder Knieoperation hinter sich haben. Ebenso könnten Rheuma-Patienten, haltungsschwache oder an der Wirbelsäule erkrankte Kinder, Patienten mit allgemeinen Rückenschmerzen, Wirbelsäulenverkrümmungen oder Beckenschiefstand von dem neuen Verfahren profitieren. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Stuhl auch bei der Physiotherapie von Querschnittgelähmten einsetzbar ist, um arthrotischen Veränderungen der Hüften und der Wirbelsäule vorzubeugen. Denkbar wäre der Einsatz des Spinemovers auch in Seniorenheimen.

Das nun anlaufende zweijährige Vorhaben soll den Nachweis erbringen, dass der Spinemover auf der Basis von biometrischen Daten ein individualisiertes Bewegungsbild auf den Rumpf des Nutzers übertragen kann. Erst danach kann dann zukünftig geprüft werden, ob der bewegte Sitz sowohl bei gehunfähigen Patienten als auch bei gesunden Probanden Rückenschmerzen lindert und vorbeugt. Ist diese Hürde geschafft, wird sich das System schnell ein großes Anwendungsgebiet erschließen: Rollstühle, Führerstandsitze (LKW, Lokomotiven, Schiffe, Flugzeuge), Bürostühle, Sessel für zuhause und Stehsitze. Sogar Sitze für das Weltraumprogramm ISS sind angedacht.

Kontakt:

Technische Universität Ilmenau
Fakultät für Maschinenbau, Fachgebiet Biomechatronik
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. med. habil. Hartmut Witte
Tel. 03677 69-2456, hartmut.witte@tu-ilmenau.de

Media Contact

Wilfried Nax M.A. idw

Weitere Informationen:

http://www.tu-ilmenau.de

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