Chancen einer alternden Gesellschaft

In einer gemeinsamen internationalen Konferenz von Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK), zweier akademischer Institutionen aus Bremen, der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften (GSSS) an der Universität und der Jacobs University Bremen (JUB), sowie der Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh soll ein unorthodoxer Blick auf ein Thema geworfen werden, das immer mehr ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit rückt: das Altern der Gesellschaft. Während dieses Thema vielen Politikern und auch manchem Bürger die Sorgenfalten auf die Stirn treibt, fragt die Konferenz, ob das Altern unserer Gesellschaft wirklich nur Nachteile mit sich bringt, oder ob es nicht auch Chancen eröffnet – wobei allen Konferenzbeteiligten vollkommen bewusst ist, dass es schwierige Übergänge zu bewältigen gilt von unserer heutigen „mittelalten“ Gesellschaft zu der deutlichen älteren Gesellschaft in 40 oder 50 Jahren. Dennoch: Besteht nur Anlass zu Sorge, gar zu Panik, oder gibt es nicht auch Hoffnung?

Ausgangslage

In fast allen altindustrialisierten Staaten liegt die Zahl der pro Frau geborenen Kinder unterhalb von 2,1, der Zahl, die für die Aufrechterhaltung einer konstanten Bevölkerung notwendig ist. Zugleich wächst die durchschnittliche Lebenserwartung Jahrzehnt für Jahrzehnt um mehr als ein Jahr. Dies führt dazu, dass die Bevölkerungen in allen entwickelten Ländern rasch altern und in einer ganzen Reihe dieser Länder zugleich zu schrumpfen beginnen. Doch auch in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern (wie China, Indien, Brasilien) sinken die Geburtenraten, und es steigt die Lebenserwartung, so dass sie mit einer zeitlichen Verzögerung von zwei bis drei Jahrzehnten voraussichtlich eine ähnliche demographische Entwicklung durchlaufen werden, wie sie sich schon heute insbesondere in fast ganz Europa und in Japan, mit einer geringeren Dynamik auch in Nordamerika abzeichnet.

Alle Experten sind sich in einem Punkt einig: Diese Prozesse werden in den betroffenen Ländern tiefgreifende Rückwirkungen ökonomischer, sozialer, politischer, aber auch kultureller und mentaler Art haben; zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte werden Großgesellschaften existieren, in denen es mehr alte (über 60) und hochbetagte (über 80 Jahre) Menschen gibt als junge Menschen unter 20 Jahren.

Uneins sind sich die Experten jedoch darin, wie das Faktum einer alternden und kleiner werdenden Bevölkerung zu bewerten ist. Ist es als Menetekel zu sehen? In den Feuilletons überregionaler Zeitungen häufen sich Prognosen, nach denen die Deutschen, Italiener, Spanier usw. langfristig „aussterben“ und die sozialen Sicherungssysteme mangels Beitragszahlern kollabieren. Der Pflegenotstand, so die düsteren Prophezeiungen, werde absehbar weder personell noch finanziell zu bewältigen sein; die betroffenen Volkswirtschaften würden aufgrund schwindender Nachfrage immer wachstumsschwächer, zugleich verödeten Städte und vor allem ländliche Regionen. Ökonomen warnen davor, dass die Riesenzahl allen Risiken aus dem Weg gehender alter Menschen Innovationsprozesse unmöglich machen werde; Politologen sehen die Gefahr einer Zerstörung der Demokratie, weil die Älteren die Jüngeren bei Wahlen im Sinne ihrer Eigeninteressen majorisieren. Diese Liste ließe sich erweitern.

Daneben gibt es – bislang allerdings weniger sichtbar ? Experten, welche die Analyse der Pessimisten nicht teilen, sondern eine eher neutrale bis gedämpft optimistische Position vertreten. Sie stellen die Probleme mit einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung nicht in Abrede, halten diese jedoch für lösbar, sofern rechtzeitig kompensatorische Maßnahmen ergriffen werden. Mit Blick auf die demographischen Prognosen als solche verweisen sie darauf, dass sich lediglich die Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte einigermaßen sicher voraussagen lässt, dass aber – eigentlich eine Trivialität – sehr langfristige Entwicklungen nur sehr ungenau bzw. – je weiter man in die Zukunft blickt – gar nicht mehr prognostizieren lassen, schon gar nicht bei einem so trägen und gleichzeitig von so vielen Faktoren abhängigen Geschehen wie es die Bevölkerungsdynamik ist.

Auch die Einschätzung, welche Konsequenzen die Bevölkerungsentwicklung haben wird, ist aus dieser Position eine andere: Ob die sozialen Sicherungssysteme auch in Zukunft finanzierbar sein werden, hängt demnach weit weniger von der absoluten Zahl der Arbeitskräfte ab als von der Arbeitsproduktivität, dem Beschäftigungsgrad, dem Ausbildungsstand der Bevölkerung usw. Der befürchtete Pflegenotstand wird unter Verweis auf medizinische und technische Innovationen (z.B. Mittel gegen senile Demenzen, Pflegeroboter usw.) entdramatisiert. Die Nachfrage auf den Märkten einer „ergrauenden“ Gesellschaft müsse, so diese Perspektive, keineswegs schrumpfen, schließlich korreliere das Nachfragevolumen nicht direkt mit der Größe der Bevölkerung; es werde allerdings sicherlich zu weiteren Umschichtungen in den Nachfragesegmenten kommen (weniger Spielzeug, mehr Medikamente und personenbezogene Dienstleistungen usw.). Die These, dass eine alternde Bevölkerung intellektuell unbeweglicher wird, wird von dieser Seite als unbewiesene Behauptung zurückgewiesen, die auf das längst obsolet gewordene Defizitmodell des Alterns zurückgeht: Das kognitive Potential von 60 bis 80 Jahre alten Menschen sei überhaupt noch nicht ausgelotet, da bis vor wenigen Jahrzehnten nur eine kleine Minderheit dieses Alter überhaupt erreichte. Auch die Liste dieser Argumente ließe sich fortsetzen.

So heterogen die Deutungen der Lage, so unterschiedlich sind auch die Rezepte, die dem „Patienten“ Bevölkerung verschrieben werden: Hier stehen Konzepte zur Geburtenförderung (Einkommenstransfers und andere Anreizsysteme, verbesserte Betreuungsangebote für Kinder, Konzepte zur Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung für Mütter usw.) ebenso auf der Tagesordnung wie verschiedene Immigrationsszenarien. Daneben wird an neuen Sozialmodellen gearbeitet, es werden innovative Pflegekonzepte vorgestellt, Vorschläge zum Umbau von Städten und zur neuen Nutzung ländlicher Räume entwickelt usw.

Konferenzziele
Ziel der Konferenz im Hanse-Wissenschaftskolleg ist es, der vorherrschenden demographischen Untergangsmentalität konstruktive Lösungsvorschläge und die positiven Aspekte entgegenzuhalten, die mit einer alternden und später auch schrumpfenden Bevölkerung einhergehen, ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren. Die Konferenz soll insbesondere Folgendes leisten:

(1) eine Zusammenfassung des aktuellen Wissens über die Bevölkerungsdynamik in den nächsten Jahrzehnten;

(2) eine realistische Synopse der damit verbundenen, schon heute bestehenden bzw. absehbaren Probleme;

(3) einen Überblick über die verfügbaren Problemlösungsinstrumente ebenso wie über die Bereiche, für die derartige Instrumente zu allererst entwickelt werden müssen.

Zu diesem Zweck sind rund 30 internationale Experten aus unterschiedlichen Forschungsbereichen (Soziologie, Ökonomie, Demographie, Psychologie, Sozialpolitik) geladen. Sie sollen den Chancen des demographischen Übergangs nachgehen und Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen. Die Tagungssprache ist Englisch. Eine deutschsprachige Podiumsdiskussion im Haus der Wissenschaft in Bremen stellt das Thema der Öffentlichkeit vor. – Finanziert wird die Tagung von der Bertelsmann-Stiftung sowie vom Hanse-Wissenschaftskolleg.

Einladung zu einer Pressekonferenz in Delmenhorst:
Am Freitag, dem 4. Mai 2007, findet von 13:15 bis 14 Uhr im Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK), Lehmkuhlenbusch 4, 27753 Delmenhorst, eine Pressekonferenz zu den Themen der Tagung statt. Rückfragen bitte an Uwe Opolka (HWK), Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tel.: 0 42 21-91 60-109, E-Mail uopolka@h-w-k.de
Einladung zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion:
Am Abend des 4. Mai, um 19:30 bis 20:45 Uhr, laden die Veranstalter zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion in Bremen ein. Das Thema lautet: „Neue Chancen durch eine alternde Bevölkerung!“ Veranstaltungsort ist das „Haus der Wissenschaft“, Sandstraße 4/5, 28195 Bremen (im Stadtzentrum, ganz in der Nähe des Doms). Auf dem Podium werden sitzen: Prof. Dr. Friedrich Breyer (Universität Konstanz), Prof. Dr. Hilke Brockmann (Jacobs University Bremen), Prof. Dr. Harald Künemund (Hochschule Vechta), Prof. Dr. Ursula Staudinger (Jacobs University Bremen) und Dr. Ole Wintermann (Bertelsmann Stiftung Gütersloh). Die Diskussionsleitung hat Prof. Dr. Johannes Huinink (Universität Bremen). Rückfragen bitte an Uwe Opolka (HWK), Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tel.: 0 42 21-91 60-109, E-Mail uopolka@h-w-k.de

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Uwe Opolka idw

Weitere Informationen:

http://www.h-w-k.de

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