Europa als kulturelle Konstruktion

„Europa“ und „Kultur“ sind klar definierte Begriffe – anscheinend. Denn das politische Europa, die EU, vergrößert sich einerseits immer weiter, andererseits wachsen auf dem gleichen Territorium die nationalstaatlichen Aktivitäten, wie aktuelle Blicke nach Polen oder auf den Balkan zeigen.

Auch der Kulturbegriff unterliegt einem Wandel – zeitlich wie örtlich. Wenn in Deutschland das Theaterschließen (oder Zusammenlegen) zum Alltag gehört, verfällt Hochkultur ebenso wie dies in der Wissenschaft sichtbar wird, wenn Geisteswissenschaften – die wissenschaftlichen Träger der Kultur – ihre Arbeit fast ohne offizielle Förderung machen müssen. Das Ergebnis der Exzellenzinitiative ist nur ein Beispiel dafür, dass die Politik die Wissenschaft heutzutage fast ausschließlich nach deren wirtschaftlichem Nutzen betrachtet und fördert.

Es geht also um hochaktuelle (und gleichzeitig prinzipielle) Themen, wenn sich am 26./27. Oktober Wissenschaftler aus ganz Europa im Tagungszentrum „Altes Schloss Dornburg“ der Universität Jena versammeln und über Kultur und Europa diskutieren. Veranstaltet vom Lehrstuhl für Volkskunde, dem Collegium Europaeum Jenense an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (CEJ) sowie der Coimbra Task Force „Culture, Arts and Humanities“ soll unter dem Tagungsthema „Europas Mitte – Mitte Europas. Europa als kulturelle Konstruktion“ zugleich eine historische Betrachtung wie aktuelle Analyse unternommen werden. Dies wird fachübergreifend geschehen und ist für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich.

„Das, was wir heute im Konflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften erleben, hat seinen Ausgangspunkt bereits Ende des 19. Jahrhunderts“, sagt Dr. Anita Bagus. „Aus einer Gegenbewegung zum verstärkten Auftreten der Naturwissenschaften entstand damals in Deutschland beispielsweise die Volkskunde, um die nationalen Werte und Bräuche, aber auch die Grundlagen des kulturellen Erbes zu bewahren“, weiß die Jenaer Volkskundlerin. Daher steht bei der Tagung an der Universität Jena – die zur Gruppe der alten europäischen Traditionsuniversitäten gehört, die sich in der Coimbra Group zusammengeschlossen haben – die Frage des Kulturbegriffs im Mittelpunkt. Denn nur über eines besteht eigentlich Konsens: Kultur ist immer mit höherer Bildung verknüpft. Doch jede Zeit und jede Region hat ihre eigene Definition entwickelt. „Heute besteht das Problem mit dem Kulturbegriff darin, dass er über-vermarktet ist“, ist Bagus überzeugt.

„Es geht derzeit um die Neukonstruktion von Europa“, ist ihre Kollegin Dr. Kathrin Pöge-Alder überzeugt. Es geht um Identifikation, Werte, Rechte und Sprache. Die Jenaer Expertin für Migranten und ihre Kultur hat es in ihren Forschungen immer wieder erlebt: Während der Westen heute immer wieder in den Osten blickt, strebt der Osten in den Westen. Doch etwa die frisch eingebürgerten Russlanddeutschen empfinden sich als „Fremde in der vermeintlich eigenen Kultur“. Somit entstehen neue Kulturen neben etablierten „und ganze Kulturlandschaften befinden sich im Wandel“, ergänzt Prof. Dr. Christel Köhle-Hezinger. Damit wird gleichzeitig ein Blick auf die eigene Identität und das Fremde, Unbekannte eröffnet – ein Blick, der entweder in Verständigung und Verständnis oder in Unverständnis und Vorurteilen enden kann.

Die Tagungsinitiatorin will bei dieser umfassenden Problematik daher vor allem zwei Themenfelder im Zentrum der Tagung analysiert wissen: Peripherie & Zentrum sowie Nationalität & Regionalität. „Unser Ziel ist eine Bestandsaufnahme und eine Sichtung der heutigen Tendenzen“, sagt Köhle-Hezinger und weiß, dass man mitten in einer aktuellen Debatte steckt. Von der Tagung im kulturträchtigen Jenaer Raum soll dazu ein wichtiger Impuls ausgehen.

Kontakt:
Prof. Dr. Christel Köhle-Hezinger
Bereich Volkskunde/Kulturgeschichte der Universität Jena
Zwätzengasse 3, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944390
E-Mail: christel.koehle-hezinger[at]uni-jena.de

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Axel Burchardt idw

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