Neuronenquelle im Gehirn

Der Nachschub rollt: Im Gehirn aller Lebewesen werden täglich viele tausend neue Nervenzellen „geboren“ und tausende sterben den Zelltod. Stress hemmt die Nervenzell-Produktion – nicht nur im erwachsenen, sondern auch in dem sich entwickelnden Gehirn von Kindern gestresster Affen-Mütter. Eine anregende Umgebung, bestimmte Psychopharmaka und Wachstumsfaktoren kurbeln die Produktion hingegen an. „Allerdings ist es noch ein weiter Weg, bis die Neuronenquelle im Gehirn gezielt zur Behandlung neurodegenerative Leiden nutzbar ist“, erklären die Hirnforscher Hans-Georg Kuhn und Eberhard Fuchs auf einem Presse-Seminar „Kosmos Gehirn 2001“ am 9. Juni in Göttingen.

„Vermutlich verfügt eine Ratte am Ende ihrer Jugend über ein völlig anderes Set von Nervenzellen im Gehirn als zu späteren Zeitpunkten ihres Lebens“, spekulieren Dr. Hans-Georg Kuhn von der Neurologischen Universitätsklinik in Regensburg und seine Kollegen aufgrund von Untersuchungen: An bestimmten Stellen im Gehirn der Nager werden nämlich ständig neue Neuronen produziert – und viele sterben umgehend oder auf dem Weg zu ihren eigentlichen Bestimmungsorten den „Apoptose“ genannten Zelltod.

Das Gehirn – ein Organ, das sich ständig selbst erneuert? Noch vor wenigen Jahren waren die Wissenschaftler vom Gegenteil überzeugt: Das Gehirn galt als ausdifferenziert, als „statisches“ Organ mit geringer Regenerationsfähigkeit.

Erstmals Anfang der 90er Jahre – ältere Beobachtungen, die auf neuronale Stammzellen hindeuteten, waren fast wieder vergessen – kratzten einige Forscher ernsthaft am Dogma vom statischen Gehirn. Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Inzwischen steht zweifelsfrei fest, dass an bestimmten Stellen im Gehirn aller Lebewesen – dem des Menschen eingeschlossen – die verschiedenen Zelltypen des Zentralnervensystems aus neuronalen Stammzellen heranreifen („Neurogenese“).

Besonders intensiv sprudelt die Neuronenquelle in der als Ependym bezeichneten Grenzschicht zwischen dem Gehirngewebe und der sie umspülenden Flüssigkeit; ebenso in bestimmten Regionen des „Hippocampus“, einem entwicklungsgeschichtlich älteren Teil der Großhirnrinde, der bei der Verarbeitung neuer Informationen und Gedächtnisleistungen eine Rolle spielt.

Besonders vermehrungsfreudig sind die neuronalen Stammzellen in der Jugend. Danach sinkt die Produktion langsam, ist aber auch bei älteren Nagern noch nachweisbar, wie Kuhn bereits Mitte der 90er Jahre beobachtete.

Dass dies bei Primaten nicht anders ist, belegen seit kurzem die Untersuchungen eines Forscherteams um Professor Eberhard Fuchs vom Primatenzentrum in Göttingen. Auch im Hippocampus von erwachsenen Altwelt-Affen, möglicherweise auch in anderen Teilen der Großhirnrinde, läuft die Neuronen-Geburt auch bei erwachsenen Tieren weiter.

Eine andere Forschergruppe konnte bei Autopsien Verstorbener im Hippocampus ebenfalls neue Nervenzellen identifizieren – der Nachweis, dass die Neurogenese auch bei Menschen stattfindet.
„Offenkundig“, schreiben Kuhn, Fuchs und ihr US-Kollege Theo Palmer von der Stanford Universität in einem demnächst erscheinenden Artikel, „sind in bestimmten Hirnregionen alle Signale vorhanden, um Stammzellen so zu instruieren, dass diese sowohl Gliazellen als auch alle Neuronenarten produzieren, die jeweils unterschiedliche Hirnbotenstoffe bilden.

Mehr Verständnis doch noch keine direkte Umsetzung

Allerdings scheint die Zellnachwuchs im Gehirn – im Gegensatz zu den regenerativen Fähigkeiten anderer Organe – nicht auszureichen, um massive Schäden, verursacht etwa durch Schlaganfälle, epileptische Anfälle oder Verletzungen, auszugleichen. Möglicherweise, so spekuliert das Forscher-Trio, gehen manche Heilungsprozesse im Gehirn trotzdem auf die Neurogenese zurück und nicht, wie bislang vielfach angenommen, auf die Fähigkeit des Gehirns, Verletzungen durch neue Nervenverknüpfungen zu kompensieren. Denn es gibt auch Hinweise, dass Gehirnschäden zumindest bei Nagern die Neurogenese stimulieren können.

Doch vorschnelle Euphorie wollen die Wissenschaftler nicht schüren: „Unsere bisherigen Beobachtungen verändern zwar unsere Einschätzung der regenerativen Fähigkeiten des Gehirns, geben uns aber gleichwohl noch nicht das Rüstzeug, große oder komplexe Gehirnareale zu regenerieren.“ Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass es keinerlei Möglichkeiten gäbe, die Neuronengeburt zu beeinflussen.

Die Erkenntnisse der Wissenschaftler bestätigen, dass die alten Griechen mit ihrem Motto „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ durchaus richtig lagen: Experimente mit Mäusen belegen, dass eine anregende Umgebung und vor allem die körperliche Aktivität in dieser anregenden Umgebung nicht nur die Neurogenese, sondern auch das Lernvermögen der Tiere verbessert. Die Wissenschaftler beobachteten diesen positiven Effekt nicht nur bei jungen Tieren, sondern auch bei älteren.

Stress hemmt die Neurogenese

Allerdings gibt es auch Einflüsse, die sich hemmend auf die Nervenzell-Produktion auswirken. Das Team von Eberhard Fuchs hat zusammen mit Elizabeth Gould von der Princeton Universität in vielen Experimenten den Einfluss von Stress auf das Gehirn untersucht. Um herauszufinden, ob Stress die Neurogenese beeinflusst, setzten die Göttinger Forscher beispielsweise Affenmännchen zu einem fremden Geschlechtsgenossen in den Käfig – für den unfreiwilligen Eindringling eine enorme Belastung. Eine Stunde in dieser Situation genügte, wie nachfolgende Untersuchungen des Hippocampus ergaben, um die Zahl der neugebildeten Nervenzellen um ein Drittel zu reduzieren. Dabei spielt die verstärkte Produktion von Stresshormonen ofenkundig eine Rolle.
Hinweise, dass diese Ergebnisse möglicherweise auf den Menschen übertragbar sind, gibt es ebenfalls: Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanz-Tomographie zeigen, dass der Hippocampus bei Patienten schrumpft, die unter chronischen Depressionen oder – wie die Opfer von Gewalttaten – unter dem so genannten Posttraumatischen Stress-Syndrom leiden. Allerdings ist unklar, ob dies durch den Untergang von Zellen verursacht wird oder durch andere Prozesse, die möglicherweise umkehrbar sind. „Möglicherweise“, spekuliert Fuchs, „spielt dabei nämlich auch die stressbedingte Unterdrückung der Neurogenese eine Rolle.“

Die neueste Studie der Göttinger Forscher zusammen mit US-Kollegen belegt darüber hinaus, dass Stress in der Schwangerschaft – zumindest bei Affenweibchen – auch nicht ohne Folgen für den Nachwuchs bleibt: Jeweils sechs Wochen – entweder zu Beginn oder in der letzten Phase der Schwangerschaft – saßen die schwangeren Tiere für eineinhalb Stunden in einem dunklen Raum und wurden danach kurz mehrfach mit einer Autohupe erschreckt.

Stress in der Affen-Schwangerschaft schadet dem Nachwuchs

Die Kinder dieser Affenmütter wuchsen danach in Gruppen mit anderen kleinen Affen auf, deren Mütter eine ungestörte Schwangerschaft gehabt hatten. Im Alter von zwei Jahren wurden die Tiere untersucht. Ergebnis: Der mütterliche Stress hatte dazu geführt, dass der Nachwuchs – im Gegensatz zu den anderen Tieren – erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol im Blut hatte und Verhaltensstörungen zeigte. Weitere Untersuchungen belegen, dass auch die Neurogenese dieser Tiere deutlich geschwächt war. „Diese Befunde“, schreiben Fuchs und seine Kollegen, „bestärken die Hypothese, dass die Empfänglichkeit („Vulnerabilität“) für Psychopathologien im Erwachsenenalter bereits in der frühen Phase der Gehirnentwicklung geschaffen wird.“

Da auch verschiedene Hirnbotenstoffe, etwa Serotonin oder Glutamat, die Neurogenese beeinflussen, ist es schon fast nicht mehr überraschend, dass eine Behandlung mit Antidepressiva und andere Psychopharmaka die Bildung von Nervenzell-Nachwuchs anregt. Allerdings geschieht dies offensichtlich über einen „Umweg“: Die Substanzen verstärken die Produktion bestimmter Wachstumsfaktoren für Nervenzellen.

Zwar scheinen die Geburtsstätte neuer Nervenzellen im Gehirn auf bestimmte Areale beschränkt zu sein. Doch es gibt Hinweise, dass es Vorläuferzellen auch in anderen Hirnregionen gibt. Diese produzieren allerdings ausschließlich Gliazellen, die Stütz- und Nährzellen im Nervensystem. Erhalten die Stammzellen jedoch die „richtigen“ Signale, schalten sie um auf Neuronen-Produktion – zumindest in der Zellkultur. „Offenkundig ’sieht’ eine Stammzelle ihre Umgebung und reagiert auf die Signale ihrer Nachbarn“, erklären die Wissenschaftler.

Signale aus der Blutbahn

Auffallend ist, dass die vermehrungsfreudigen Stammzellen im Hippocampus besonders in der Nähe feiner Blutkapillare anzutreffen sind. Möglicherweise erhalten die Zellen, so eine Vermutung der Forscher, wichtige Signale mit dem Blutstrom. Vielleicht gelangen auch Stammzellen aus dem Knochenmark, die ebenfalls zu Neuronen heranreifen können, auf diesem Weg ins Gehirn. Ob diese Spekulation sich im Experiment bestätigen wird, ist noch offen. Gleichwohl gibt es Hinweise, dass die Stammzellen in verschiedenen Organen einige Eigenschaften gemeinsam haben. „Haben wir es“, fragen sich darum die Wissenschaftler, „vielleicht mit einer multipotenten Stammzelle zu tun, die sich in verschiedenen Organen einnisten kann?“

Diese Frage ist nicht trivial, eröffnet sie doch die Möglichkeit, Stammzellen die (auch) zu Neuronen werden können, aus anderen Geweben zu isolieren. Ebenso könnte der Blutstrom eine elegante Route sein, um solche Zellen in das Gehirn einzuschleusen.
Allerdings verlieren die Wissenschaftler dabei nicht die entscheidende Frage aus dem Auge: Wie ist es zu bewerkstelligen, dass diese Stammzellen und ihre Abkömmlinge mit den jeweils „richtigen“ Signalen versorgt werden, damit auch genau die benötigten Zelltypen entstehen und diese Zellen auch Verbindungen mit ihrer Umgebung und anderen Nervenzellverbänden knüpfen?

Ob es genügt, die Zellen nur in der jeweils „richtigen“ Umgebung anzusiedeln, ist offen. „Sicher ist nur“, resümieren die Forscher, „dass wir noch sehr viel tiefer in die entscheidenden Weichenstellungen der Neuronen-Entwicklung eindringen müssen, um Strategien zur Behandlung degenerativer Hirnerkrankungen zu entwickeln.“

Rückfragen an:
Dr. Hans-Georg Kuhn
Neurologische Klinik, Universität Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg
Tel.: 0941-944-8958; Fax: 0941-944-8998;
E-Mail: georg.kuhn@klinik.uni-regensburg.de

Prof. Dr. Eberhard Fuchs
Deutsches Primatenzentrum
Kellnerweg 4, 37077 Göttingen
Tel.: 0551-385 11 30; Fax: 0551-385 12 28;
E-Mail: efuchs@gwdg.de

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