Vom Gen zur Therapie: Studie zeigt Bedeutung von Kaliumkanälen bei frühkindlichen Epilepsien

Für eine Epilepsie liefern die Hirnströme den entscheidenden Beweis. Diese lassen sich mit Hilfe der Elektroenzephalografie (EEG) darstellen Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)

Die durch die Störung des Kalium‐Ionenkanals ausgelösten frühkindlichen Epilepsien bilden ein eigenständiges Krankheitsspektrum innerhalb der sogenannten epileptischen Enzephalopathien.

Dies sind schwerwiegende Epilepsien mit Beginn im Kindesalter, mit unterschiedlich stark ausgeprägten Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderungen und weiteren neuropsychiatrischen Symptomen, wie Autismus und Koordinationsstörungen (Ataxie).

Neue individualisierte Behandlungsmöglichkeiten

„Mit dieser überaus wichtigen Arbeit sind wir einem Ziel näher gekommen, von dem wir in der Epileptologie noch vor Kurzem weit entfernt waren: einem individualspezifischen Krankheitsverständnis und individualspezifischer rationaler Therapieansätze“, kommentiert Professor Bernhard Steinhoff von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Ärztlicher Direktor am Epilepsiezentrum Kork.

Bei ihren Untersuchungen stellten die Wissenschaftler fest, dass die entdeckten genetischen Mutationen die Funktion des Kaliumkanals KCNA2 auf zwei Arten stören: Bei einigen Patienten ist der Kaliumfluss stark eingeschränkt (loss of function), während er bei anderen massiv erhöht ist (gain of function).

„Für diejenigen Patienten, bei denen der Kaliumfluss erhöht ist, ergibt sich aus den Ergebnissen der Studie eine konkrete neue Behandlungsmöglichkeit, da ein verfügbares und zugelassenes Medikament, das 4‐Aminopyridin, diesen Kanal spezifisch blockiert“, erklärt einer der Studienleiter, Professor Holger Lerche, Vorstand am Hertie‐Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen.

Bei dem anderen Teil der Patienten, bei denen der Kaliumfluss reduziert ist, wollen die Wissenschaftler nun durch weitere Experimente herausfinden, wie die epileptischen Anfälle genau entstehen, um daraus neue Therapiemöglichkeiten abzuleiten. „So wären wir in der Lage, zumindest einem kleinen Teil der Patienten mit epileptischen Enzephalopathien zu einer verbesserten und individualisierten Therapie zu verhelfen“, hofft Lerche. Voraussetzung für eine Behandlung sei allerdings, Gendefekte frühzeitig zu erkennen und therapeutisch einzugreifen, bevor es zu einer irreversiblen Entwicklungsverzögerung kommt.

Ionenkanäle wichtig für elektrisches Gleichgewicht im Gehirn

Die Funktionsfähigkeit des Gehirns beruht unter anderem auf dem Zusammenspiel vieler verschiedener Ionenkanäle. Sie verhindern eine überschießende Ausbreitung elektrischer Aktivität durch ein sensibles Gleichgewicht zwischen hemmenden und fördernden Einflüssen. Die Ionenkanäle – darunter auch der Kaliumkanal KCNA2 – sitzen gemeinsam mit vielen weiteren Poren und Kanälen in der Zellwand einer Nervenzelle. Durch Öffnen und Schließen bestimmt KCNA2 den Durchfluss von Kaliumionen und beeinflusst damit die elektrische Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn.

„Die Entdeckung von KCNA2‐Mutationen ist ein weiterer Meilenstein, um die molekularen Mechanismen genetisch bedingter epileptischer Enzephalopathien bei Kindern zu erklären. Zudem können wir durch das zunehmende Verständnis des genetischen Hintergrunds immer besser bezüglich Prognose und Vererbung beraten, wozu diese Arbeit einen wichtigen Beitrag leistet“, bestätigt Professor Ulrich Brandl von der Gesellschaft für Neuropädiatrie, Direktor der Abteilung Neuropädiatrie am Universitätsklinikum in Jena.

Meilenstein für die Epilepsie‐Forschung

„Auch wenn man den Kaliumkanaldefekt nur bei einem kleinen Teil der Kinder, die an derartigen Epilepsien erkrankt sind, nachweisen kann: Für einige Kinder dürfte diese Studie eine ersehnte Klärung bringen – und allein die Fassbarkeit einer Ursache ist für viele Betroffene schon ein wichtiger Schritt“, kommentiert Professor Rüdiger Köhling von der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie, Direktor des Oscar Langendorff Instituts für Physiologie. Und noch etwas zeigt die Studie aus Sicht von Professor Köhling: „Forschungsanstrengungen großer Konsortien lohnen sich – in den großen Zahlen stecken Daten, die bei Betrachtung kleinerer Patientengruppen nie gesehen würden.“

An der Studie waren zahlreiche Wissenschaftler aus unterschiedlichen Schwerpunktbereichen der Neurologie und Neuropädiatrie beteiligt, darunter das Konsortium EuroEPINOMICS. Dieses europäische Konsortium von Epilepsieforschern hat europaweit DNA‐Proben mit epileptischen Enzephalopathien und Ataxien gesammelt – bei der Auswertung der Daten von mehr als 400 Patienten wurden insgesamt sechs Mutationen gefunden.

Quelle
Syrbe, S. et. al (2015) De novo loss‐ or gain‐of‐function mutations in KCNA2 cause epileptic encephalopathy. Nature Genetics (09 March 2015) doi: 10.1038/ng.3239
http://www.nature.com/ng/journal/vaop/ncurrent/full/ng.3239.html

Gemeinsame Presseinformation der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) und der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP)

Kontakt bei Rückfragen

Prof. Dr. med. Holger Lerche
Ärztlicher Direktor Abt. Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie
Hertie Institut für Klinische Hirnforschung
Universitätsklinikum Tübingen
Hoppe‐Seyler‐Str. 3, 72076 Tübingen
E‐Mail: <silke.jakobi@medizin.uni‐tuebingen.de>
Tel.: +49 (0) 7071 29‐88800

Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Tel.: +49 (0)89 46148622, Fax: +49 (0)89 46148625, E‐Mail: presse@dgn.org
Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans‐Christoph Diener, Essen

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