Menschliches Sehsystem ist dynamisch

In unserer natürlichen Umgebung sind wir ständig in Bewegung – das gilt zumindest für unsere Augen. Die Augenbewegungen sind nötig, um das jeweilige Blickziel besser erkennen zu können. Bisher gab es in erster Linie Befunde, die zeigten, dass während solcher Augenbewegungen die visuelle Wahrnehmung stark eingeschränkt ist.

Gießener Forscher unter der Federführung von Prof. Dr. Karl Gegenfurtner, Abteilung Allgemeine Psychologie, der Justus-Liebig-Universität zeigen in einer aktuellen Studie, dass während der Augenbewegungen für manche Reize die Empfindlichkeit des Sehsystems aber auch zunehmen kann. Die Gießener Experimente belegen eindrücklich, dass das menschliche Sehsystem nicht statisch ist. Alle Voraussetzungen sind erfüllt, so dass der Mensch optimal auf jede spezifische Gegebenheit reagieren kann.

Diese Ergebnisse publizieren Alexander C. Schütz, Doris I. Braun, Dirk Kerzel, Karl R. Gegenfurtner in ihrem Beitrag „Improved visual sensitivity during smooth pursuit eye movements“ in der Oktober-Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature Neuroscience“, einer der Nature-Monatsschriften. Am 21. September hat das renommierte Fachblatt die Forschungsergebnisse bereits vorab in seiner Online-Ausgabe (Advance Online Publication (AOP)) bekannt gemacht.

Unterstützt wurden die Arbeiten von der DFG-Forschergruppe 560 – Wahrnehmung und Handlung (Gießen/Marburg) und dem DFG-Graduiertenkolleg „NeuroAct“ (Marburg/Gießen).

Menschen und Primaten bewegen ihre Augen, um interessante Bereiche der Umwelt auf den Bereich des schärfsten Sehens in der Netzhaut, die sogenannte Fovea, abzubilden. Etwa dreimal pro Sekunde treten solche schnellen, ruckartigen Augenbewegungen auf. Wenn sich das Objekt des Interesses aber bewegt – beispielsweise ein fliegender Vogel oder auch ein Fußball – muss es mittels langsamer Augenbewegungen verfolgt werden, um das Netzhautbild in der Fovea zu stabilisieren.

Bisherige Ergebnisse zeigten, dass visuelle Wahrnehmungsleistungen durch diese Augenbewegungen teilweise stark beeinträchtig sind. So sind die Menschen während der schnellen Blicksprünge für den Bruchteil einer Sekunde nahezu blind. Die aktuelle Studie der Gießener Psychologen weist dagegen nach, dass bestimmte Wahrnehmungsleistungen während langsamer Augenfolgebewegungen sogar verbessert werden können. Es zeigte sich, dass die Empfindlichkeit für farbige Reize und für fein strukturierte Muster während glatter Augenfolgebewegungen höher ist als bei ruhendem Auge. Grob strukturierte Reize, die sich in der Helligkeit vom Hintergrund unterscheiden, werden während glatter Augenfolgebewegungen hingegen schlechter wahrgenommen. Diese Unterschiede zwischen der Verarbeitung von Farbe und Helligkeit deuten darauf hin, dass die Unterschiede schon sehr früh in der visuellen Verarbeitung entstehen.

Der „parvozelluläre Pfad“ führt von der Netzhaut zum Sehzentrum im Gehirn und vermittelt hauptsächlich Informationen über Farbe und kleine Details. Da die Studie ferner zeigt, dass die Verbesserung der Wahrnehmungsleistung schon sehr rasch eintritt – nämlich kurz bevor die Augen anfangen sich zu bewegen -, nehmen die Gießener Forscher an, dass im Gehirn gleichzeitig mit dem Startsignal für die Bewegung der Augen ein Signal zum Sehzentrum geschickt wird, um die visuelle Empfindlichkeit während der Augenbewegungen neu zu justieren.

Die Experimente belegen eindrücklich, dass das menschliche Sehsystem nicht statisch ist, sondern dass ständig hier und da an „Schrauben“ gedreht wird, damit der Mensch optimal auf die jeweiligen Gegebenheiten reagieren kann.

Originalveröffentlichung:
Alexander C. Schütz, Doris I. Braun, Dirk Kerzel, Karl R. Gegenfurtner (2008).
Improved visual sensitivity during smooth pursuit eye movements.
Nature Neuroscience, October 2008, Volume 11 No 10, pp 1211-1216
Kontakt:
Prof. Karl R. Gegenfurtner
Fachbereich 06 – Psychologie und Sportwissenschaften
Abteilung Allgemeine Psychologie
Otto-Behaghel-Straße 10F
35394 Gießen
Telefon: 0641 99-26100, Fax: 0641 99-26119
E-Mail: gegenfurtner@psychol.uni-giessen.de

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