Der Fahrstuhl geht meistens nach unten: Auf einen Schulaufsteiger kommen mehr als zwei Absteiger

Auf einen Schulaufsteiger kommen in Deutschland mehr als zwei Absteiger. Dies geht aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Durchlässigkeit der Schulsysteme hervor. Demnach wurden im Schuljahr 2010/11 rund 50.000 Schüler zwischen Klasse fünf und Klasse zehn auf eine niedrigere Schulform herabgestuft. Das bedeutet, aus durchschnittlich jeder zweiten Realschul- und Gymnasialklasse wurde ein Schüler abgeschult. Lediglich rund 23.000 Schülern hingegen gelang ein Aufstieg auf eine höhere Schulform.

Die Aufstiegschancen und der Anteil der Schulformwechsler unterscheiden sich für die einzelnen Bundesländer erheblich, jedoch lässt sich allein von der Struktur eines Schulsystems nicht eindeutig auf dessen Durchlässigkeit schließen, resümiert die Autorin der Studie, Professorin Gabriele Bellenberg, Bildungsforscherin an der Ruhr-Universität Bochum. Wechseln in Baden-Württemberg in der Sekundarstufe I – also zwischen der fünften und zehnten Klasse – nur jährlich 1,3 Prozent der Schüler die Schulform, sind es in Bremen 6,1 Prozent.

Die Häufigkeit von Schulformwechseln sagt noch nichts aus über das Verhältnis zwischen Auf- und Absteigern. Länder mit seltenen Schulformwechseln haben teils ein günstiges (Baden-Württemberg 1 zu 1,5), teils ein ungünstiges (Nordrhein-Westfalen 1 zu 5,6) Verhältnis zwischen Auf- und Absteigern. Ähnlich große Unterschiede zeigen sich unter den Ländern mit häufigen Schulformwechseln: In Bremen kommen auf einen Aufsteiger lediglich 2,4 Absteiger, während die Schulen in Berlin rechnerisch pro Aufsteiger sieben Schüler herabstufen. „Ein Schulsystem darf nicht nur nach unten durchlässig sein. Abschulungen sind häufig noch pädagogische Praxis, viel zu selten wird hingegen geprüft, ob ein Schüler einen Aufstieg schaffen kann“, sagte Jörg Dräger, Bildungsexperte und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung.

Das bundesweit ungünstigste Verhältnis zwischen Auf- und Absteigern weist das niedersächsische Schulsystem auf, wo auf einen Aufsteiger mehr als zehn Absteiger kommen. Mehr Auf- als Absteiger (1 zu 0,9) gibt es nur in einem einzigen Bundesland, in Bayern. Dort allerdings entsteht, wie die Studie zeigt, das vermeintliche Plus an Aufstiegschancen erst aufgrund des restriktiven Übergangs von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen. Jeder zweite Schulaufsteiger in Bayern wechselt nach der fünften Klasse von Haupt- oder Realschule auf eine höhere Schulform, startet dort jedoch erneut in Klasse fünf. Diese Schüler bezahlen folglich den Schulaufstieg mit einer Klassenwiederholung.

Die Struktur der Schulsysteme beeinflusst zwar deren Durchlässigkeit, so die Studie, der Typus zweigliedrig oder mehrgliedrig allein ist jedoch nicht entscheidend für die Aufstiegschancen der Schüler. In den klassischen mehrgliedrigen Schulsystemen ist das Verhältnis zwischen Auf- und Abstieg dort besonders schlecht, wo nur noch rund jedes zehnte Kind nach der Grundschule die Hauptschule besucht. In den Hauptschulen dieser Länder sammeln sich im Verlauf der Sekundarstufe I zu großen Teilen Schüler, deren Schullaufbahnen durch Misserfolge geprägt sind. In Niedersachsen etwa ist jeder dritte Hauptschüler auf diese Schulform herabgestuft worden, in Nordrhein-Westfalen nahezu jeder vierte. Wesentlich besser ist das Verhältnis von Auf- und Abstiegen in den ebenfalls mehrgliedrigen Schulsystemen von Baden-Württemberg und Bayern, wo die Hauptschule nicht zur „Restschule“ geworden ist.

Erstmals seit Beginn der derzeitigen Umbauphase in der Schullandschaft analysiert und vergleicht eine Studie alle 16 deutschen Schulsysteme. Zwar ist bundesweit ein klarer Trend zur Zweigliedrigkeit erkennbar, denn neben den fünf ostdeutschen Flächenländern haben sechs weitere Länder einen einschneidenden Wandel ihrer Schulstruktur hin zur Zweigliedrigkeit eingeleitet. Auch die fünf Bundesländer mit mehrgliedrigen Schulsystemen haben teilweise mit strukturellen Veränderungen begonnen. Dieser Trend zur Zweigliedrigkeit allerdings führt nicht zu mehr Übersichtlichkeit: Die Studie zählt allein für die Sekundarstufe I mittlerweile 22 verschiedene Schulformen – mit dem Gymnasium als einziger Schulform, die sich in jedem Bundesland findet.

Diese Vielfalt stelle die Bildungspolitik vor zwei wichtige Aufgaben, sagte Jörg Dräger. Erstens müsse die Forschung die Reformen und ihre Auswirkungen in den Ländern intensiver untersuchen, die Ergebnisse öffentlich machen und bundesweit vergleichen. Zweitens müsse, weil die Schulstruktur nicht der entscheidende Faktor für mehr Chancengerechtigkeit ist, umso mehr Wert auf individuelle Förderung gelegt werden. Dazu sei es notwendig, dass Schulen ihren Unterricht am pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung ausrichten und Lehrer in Aus- und Fortbildung die Kompetenz dafür erwerben. „Auf Abschulungen und Klassenwiederholungen kann man dann weitgehend verzichten“, sagte Dräger.

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