Studie zur operativen Behandlung schwerer Bewegungsstörungen

Ergebnisse der neuen Studie zur operativen Behandlung schwerer Dystonien im New England Journal of Medicine veröffentlicht.

Die tiefe Hirnstimulation lindert bei schweren dystonen Bewegungsstörungen, die nicht ausreichend auf eine medikamentöse Behandlung ansprechen, die unwillkürlichen Muskelverkrampfungen und Fehlhaltungen, verbessert die Alltagsaktivitäten der Betroffenen und bewirkt eine Steigerung der Lebensqualität. Dies sind die Hauptergebnisse einer multizentrischen Studie unter Leitung der neurologischen Universitätskliniken in Kiel und Rostock.

Unter Dystonie versteht man eine Fehlfunktion von Bewegungen, deren neurologischer Ursprung in den motorischen Zentren im Gehirn liegt und die zu unwillkürlich verzerrenden Bewegungen und schmerzhaften Muskelverkrampfungen führt. Die Erkrankung kann einzelne Körperabschnitte (z.B. Schiefhals) oder den gesamten Körper (generalisierte Dystonie) erfassen. Die generalisierten Dystonien können bei jungen Menschen, ohne deren geistige Fähigkeiten zu beeinträchtigen, sogar bis zur Bettlägerigkeit führen. Allein in Deutschland gibt es mehr als 160.000 Betroffene.

Für die schwersten Formen der Dystonie, die sogenannten generalisierten oder segmentalen Dystonien, die weite Bereiche des Körpers erfassen und ohne erkennbare Ursache im Kindes- oder Erwachsenenalter auftreten, konnte jetzt erstmalig gezeigt werden, dass eine gezielte Neurostimulation in tiefen Hirnkernen zu einer weitreichenden Symptomlinderung führen kann. Das renommierte „New England Journal of Medicine“ berichtet in seiner Ausgabe am 9.11.2006 über die Ergebnisse einer Multizenterstudie unter deutscher Leitung und bestätigt damit die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Fachwelt und für die zukünftigen Behandlungsmöglichkeiten von Dystonie-Patienten.

In einem kontrollierten prospektiven Untersuchungsaufbau wurde die tiefe Hirnstimulation im inneren Pallidumglied (Globus pallidus internus) erstmals mit einer Kontrollgruppe verglichen, die eine Scheintherapie erhielt. Bei allen Patienten wurde ein Neurostimulator implantiert, aber nur bei der Hälfte der Patienten nach der Operation eine effektive Stimulation eingestellt. Nach dreimonatiger Behandlungsdauer wurde die Verbesserung der Krankheitssymptome in beiden Gruppen anhand von Videoaufnahmen der Patienten durch zwei unabhängige Experten aus den USA und England beurteilt.

Scheinstimulierte Patienten zeigten eine durchschnittliche Verbesserung der dystonen Bewegungen um nur 4.9 Prozent während die tiefe Hirnstimulation mit 39 Prozent eine deutliche Minderung der Fehlfunktionen bewirkte. Im Anschluss an die verblindete 3-Monatsphase wurde bei allen Patienten eine effektive Stimulation eingestellt. Nach sechsmonatiger Nachbeobachtung zeigte sich in der gesamten Gruppe eine Verbesserung der Dystonie um 46 Prozent, der Alltagsaktivitäten um 41 Prozent und der Lebensqualität um 31 Prozent.

Diese Befunde sind umso bedeutender, da für diese Patientengruppe keine medikamentösen Behandlungsalternativen zur Verfügung stehen. Bei den am schwersten betroffenen Patienten hatte die Erkrankung zu Bettlägerigkeit oder Rollstuhlpflicht geführt. Bei einigen dieser Patienten konnte durch die tiefe Hirnstimulation eine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Pflegemaßnahmen wiederhergestellt werden. Bleibende Nebenwirkungen traten durch die Operation nicht auf.

Allerdings erforderten Wundheilungsstörungen oder technische Probleme bei etwa jedem fünften Patienten eine Nachbehandlung. Unter der Stimulation selbst war als einzige relevante Nebenwirkung eine leichte Verschlechterung der Sprache in 15 Prozent der Fälle zu beobachten, die jedoch meist durch Umstellung der Stimulationsparameter behoben werden konnte.

Während die tiefe Hirnstimulation als Behandlungsmethode bei der Parkinson-Krankheit anerkannt ist und weltweit an tausenden Patienten durchgeführt wurde, gab es bislang zur Dystonie nur Einzelberichte oder kleine Fallstudien. Das Verfahren ist daher bislang noch nicht allgemein akzeptiert. „Unsere Studie wird Auswirkung auf die Behandlungsempfehlungen für Patienten mit Dystonien haben“, so Studienleiter Privatdozent Dr. Jens Volkmann, Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. „Wir haben einen neuen Weg gefunden, den schwer betroffenen Patienten zu helfen und ein Leben mit geringerer Behinderung zu führen.“

Studienleiter Prof. Dr. Reiner Benecke, Neurologische Klinik der Universität Rostock, ist stolz darauf, dass es der deutschen Arbeitsgruppe unter Leitung der Universitäten Kiel und Rostock gelungen ist, „mit relativ geringen Forschungsmitteln in dem hochinnovativen Forschungsfeld der tiefen Hirnstimulation durch die jetzt publizierten Forschungsergebnisse einen wichtigen Meilenstein für die weltweite Behandlung dieser Patientengruppe gesetzt zu haben“.

Die Studie wurde an neun deutschen Universitätskliniken unter Beteiligung von je einem Zentrum in Österreich und Norwegen durchgeführt. Der Verbund der deutschen Universitätskliniken wurde im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Parkinson-Syndrom durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt.

Diese Studie ist ein Beweis für die Fähigkeit und Bereitschaft deutscher Wissenschaftler, internationale Spitzenleistungen in einer fachübergreifenden Kooperation zu erzielen. Die Studie konnte nur durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Neurologen und Neurochirurgen im multizentrischen Verbund erfolgreich abgeschlossen werden. Die klinisch-neurowissenschaftliche Forschung in Deutschland hat mit dieser innovativen Therapiestudie ihre Stellung in der internationalen Spitzengruppe bestätigt.

Für Rückfragen stehen zur Verfügung:
Priv.-Doz. Dr. Jens Volkmann, Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
Schittenhelmstr. 10, 24105 Kiel
Tel.: 0431 / 597-8509, Fax: 0431 / 597 8501
E-mail: j.volkmann@neurologie.uni-kiel.de

Media Contact

Dr. Anja Aldenhoff-Zöllner idw

Weitere Informationen:

http://www.uk-sh.de

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