Reifung des Gehirns verändert die Gedächtnisleistung

Durch ein Training mit der Methode der Orte verbessert sich die Gedächtnisleistung in jeder Altersgruppe. Altersunterschiede zeigen sich jedoch im „Zugewinn“ nach dem Training.

Was passiert im Gehirn, wenn wir uns etwas einprägen? Woran liegt es, dass manche Gedächtnisleistungen im Laufe des Erwachsenenalters nachlassen? Warum fällt es Kindern mitunter schwer, über einen längeren Zeitraum hinweg konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten? Klappt das Zusammenspiel verschiedener Regionen im Gehirn bei älteren Erwachsenen nicht mehr so perfekt wie bei Kindern und jungen Erwachsenen?

Diese Fragen haben Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Dr. Viktor Müller, Dr. Timo von Oertzen und Dipl.-Psych. Yvonne Brehmer mit einem aufwändigen Experiment untersucht. Die Versuche fanden an der Universität des Saarlandes statt und werden nun am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ausgewertet, wo Lindenberger als Direktor den Forschungsbereich „Psychologie der Lebensspanne“ leitet.

Als gesund und lernbegierig könnte man die Versuchsteilnehmer beschreiben, die an dem Lern- und Gedächtnisforschungsprojekt teilgenommen haben. Je 24 Kinder von 9-10 Jahren, von 11-12 Jahren, Studierende zwischen 20 und 25 und Senioren, überwiegend Gasthörer der Universität zwischen 62 und 75 Jahren, wurden für die Teilnahme ausgewählt. Frauen und Männer waren in jeder Altersgruppe gleichstark vertreten. Die über 96 Probanden erlernten in zwei Sitzungen eine Gedächtnismethode, mit der man sich viele Begriffe ohne äußere Hilfsmittel merken kann (z.B. eine Einkaufsliste). Dabei handelte es sich um eine Variante der „Methode der Orte“, die bereits aus der Antike bekannt ist. Die Teilnehmer trainierten, die zu erlernenden Wörter mit Orten zu assoziieren und sich anschauliche und möglichst außergewöhnliche Bilder im Kopf auszumalen, die das Wort an dem betreffenden Ort zeigen.

In der aktuellen Studie erschienen 16 Orte wie Bahnhof, Bäckerei, Schule, mit denen Kinder und Erwachsene gleichermaßen vertraut sind, nacheinander auf dem Computerbildschirm. Gleichzeitig wurde zu jedem Ort über Kopfhörer ein Wort eingespielt. Nachdem alle 16 Ort-Wort Paare erschienen waren, wurden die Teilnehmer gefragt, welche Lernwörter mit den einzelnen Orten gekoppelt waren. Dann fiel ihnen meistens ihr außergewöhnliches Bild wieder ein und damit auch das entsprechende Lernwort.

Vor der Einführung in die Methode der Orte, unmittelbar danach und am Ende des Trainings haben die Wissenschaftler bei den Versuchsteilnehmern die elektrischen Aktivierungen des Gehirns mit einem EEG beim Einprägen und Erinnern der Wörter aufgezeichnet. In den ersten Sitzungen hatten die Versuchsteilnehmer viel Zeit zum Einprägen der Bilder. Später sollten sie dieselbe Aufgabe unter großem Zeitdruck bewältigen. Schließlich berechneten die Psychologen am Ende des Trainings individuell für alle Teilnehmer die Einprägezeit, mit der sie noch etwa die Hälfte der 16 Wörter lernen konnten. Dadurch war jeder der Teilnehmer an seinem Leistungslimit und die Hirnaktivierungen waren besser vergleichbar.

Vermutlich spielen beim Lernen mit der Methode der Orte drei Gehirnbereiche eine wichtige Rolle: Der präfrontale Bereich, der zur Planung und Koordination kognitiver Prozesse beiträgt, der Schläfenlappen, der für Einprägen und Erinnern erforderlich ist, sowie der visuelle Bereich im hinteren Schädel. Wenn diese drei Bereiche bereits während des Einprägens synchron aktiviert sind (Kohärenz), könnte dies darauf hindeuten, dass das entsprechende Wort auch mit hoher Wahrscheinlichkeit erinnert wird, vermuten Lindenberger und Müller.

Erste Ergebnisse zeigen, dass sich die Gedächtnisleistung der Studienteilnehmer aller Altersgruppen durch das Training mit der Methode der Orte verbessert. Trotz individueller Unterschiede innerhalb der verschiedenen Altersgruppen zeigen sich Altersunterschiede besonders an den Leistungsobergrenzen, also nach dem Training mit der Gedächtnismethode. „Wenn wir den Zugewinn untersuchen, den die Teilnehmer nach einem gründlichen Training erzielen können, sehen wir die Auswirkungen des Alterns und das Potential der Kinder viel deutlicher als bei einfachen Gedächtnistests, wo Erwachsene durch ihr Vorwissen gegenüber Kindern im Vorteil sind“ erklärt Yvonne Brehmer.

Die EEG-Ergebnisse der Studie werden zur Zeit ausgewertet. Erste Befunde scheinen eine Vermutung zu bestätigen, die bereits Ende des 19ten Jahrhunderts von dem französischen Wissenschaftler Théodule Ribot geäußert wurde: Diejenigen Gehirnfunktionen und Verarbeitungswege, die sich spät entwickeln, gehören zu den denen, die am frühesten von Alterungsprozessen betroffen sind. Insbesondere betrifft dies den präfrontalen Bereich des Stirnhirns, dessen Reifung sich bis in das Jugendalter erstreckt.

Ausblick: Mittlerweile beteiligt sich auch Dr. Shu-Chen Li vom Berliner Max-Planck-Institut an diesem Forschungsprojekt. Eine weitere Studie mit den gleichen Versuchsteilnehmern ist in Saarbrücken geplant. Viktor Müller und Ulman Lindenberger werden die EEG-Daten auswerten und Yvonne Brehmer analysiert im Zuge ihrer Dissertation die Lernverläufe und die Leistungsobergrenzen der verschiedenen Altersgruppen im Detail.

Media Contact

Dr. Antonia Rötger idw

Weitere Informationen:

http://www.mpib-berlin.mpg.de

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