Judenfeindliche Mobilisierungsversuche nehmen zu

Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland

„Auffallend ist, dass seit 1990 – vor allem im Osten Deutschlands – antisemitische Verhaltensmuster auch in den jüngeren Altersgruppen zugenommen haben, obwohl sie bis 1989 zurückgegangen waren,“ resümiert der Berliner Politikwissenschaftler Lars Rensmann in seiner jüngst erschienen Studie „Demokratie und Judenbild – Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik“. Rensmann stellt in seiner an der Freien Universität Berlin entstandenen Studie gängige Analysen über den schwindenden Antisemitismus anhand von fünf politischen Debatten der vergangenen Jahre in Frage. Alte Klischees gegen Juden würden stets dann wieder artikuliert, wenn es zuvor zu einem öffentlichen Tabubruch gekommen sei. Sowohl in der linken als auch in der rechten Szene gäbe es ein antisemitisches Potenzial, das verhältnismäßig einfach zu aktivieren sei.

Bei der Studie handelt es sich um die erste umfassende und systematische politikwissenschaftliche Untersuchung zum Problem des Antisemitismus in der Bundesrepublik nach der deutschen Einheit (1990-2002). Der Politikwissenschaftler untersucht dabei neben den Akteuren der extremen Rechten und Linken auch öffentliche und politische Kontroversen seit der Wende, wie die Goldhagen-Kontroverse 1996, die ’Walser-Debatte’ 1998, die Mahnmal- oder Entschädigungsdebatten im Deutschen Bundestag und die Affäre Möllemann im Bundestagswahlkampf 2002.

Bei den extremen Flügeln sowohl der Linken als auch der Rechten hat ein radikaler „Antizionismus“ und ein modifizierter Antisemitismus an Bedeutung gewonnen. Sie sind zum Teil programmatisch ins Zentrum politischer Mobilisierungen gerückt, wie die Analyse von Medien, Gruppen und Parteien aus diesem Spektrum zeigt. „Dabei haben sich die extreme Rechte und die extreme Linke politisch-ideologisch deutlich angenähert“, sagt der Politikwissenschaftler Rensmann. Diese Tendenz habe sich vor allem nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 verstärkt. „Auf beiden Seiten herrscht eine modernisierte Form des Antisemitismus und des ’Antizionismus’ und eine oft antijüdisch personifizierte Feindschaft gegen ’Globalisierung’ oder ’Globalismus’.“

Lars Rensmann analysiert in seiner Studie insbesondere öffentliche Kommunikationsprozesse und politisch-kulturelle Umgangsweisen mit dem Problem des Antisemitismus, vor allem seitens der Medien sowie des politischen Systems und seiner Repräsentanten. Dabei kommt er zu einem Ergebnis, das sich nicht in eine lineare und widerspruchsfreie Entwicklungstendenz einfügen lässt. Er sagt: „Weder gibt es insgesamt einen dramatischen Anstieg antisemitischer Vorurteile in der Gesellschaft noch ist durch die öffentlichen Diskussionen über Antisemitismus und die NS-Vergangenheit eine stetig zunehmende Durcharbeitung von negativen Judenbildern oder eine Abnahme des Antisemitismus nachweisbar.“ Entscheidend sei im Rahmen der – notwendigen – öffentlich-politischen Kommunikationsprozesse nicht die Quantität der Auseinandersetzung mit der Geschichte und konventionellen Identitätsmustern oder Vorurteilen, sondern die Qualität, das „Wie“. Problematische Auswirkungen hätten gegenüber der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit abwehrende politische Symboliken und Gesten (wie die politische Würdigung von Walsers Rede über die ’Moralkeule Auschwitz’), die Mobilisierung konventionellen Nationalstolzes und die teils erodierenden Grenzen hinsichtlich der Legitimität antijüdischer Äußerungen innerhalb der demokratischen Gesellschaft (wie der des damaligen FDP-Vizes Möllemann), während andererseits die Abwehrmechanismen des politischen Systems gegenüber extremistischen Akteuren und Gefahren weiterhin überwiegend einwandfrei funktionierten.

Von Felicitas von Aretin

Literatur:
Lars Rensmann, „Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004.

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Dr. Lars Rensmann, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, Tel.: 030 / 838-54986 oder -5462 E-Mail: rensmann@zedat.fu-berlin.de

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