Higgs-Teilchen reagiert auch mit „unserer“ Materie

Kollision zweier Protonen im CERN Beschleuniger LHC, bei der das Higgs-Boson kurzzeitig erzeugt wird und dann in zwei (bottom) Quarks zerfällt. (c) CERN, https://cds.cern.ch/record/2636049/

Das vor einigen Jahren am CERN entdeckte Higgs-Teilchen, manchmal aufgrund seiner Andersartigkeit irreführend „Gottesteilchen“ genannt, hält die Grundlagenforscherwelt seitdem in Atem. Von dem Elementarteilchen wird vermutet, dass es eine bedeutende Rolle in der Physik des Allerkleinsten spielt, die auch für den Ablauf der Entstehung des Universums kurz nach dem Urknall entscheidend verantwortlich ist.

Dadurch konnte die Welt so entstehen, dass wir in ihr leben können. „Bereits kleine Änderungen der `Stellschrauben´ zu ganz frühen Zeiten würden ein Universum erzeugen, das kein Leben erlaubt“, sagt Professor Norbert Wermes vom Physikalischen Institut der Universität Bonn.

Insbesondere soll das Higgs-Teilchen für die Masse aller Elementarteilchen verantwortlich sein, indem es mit ihnen fortlaufend in Interaktion ist – so ähnlich wie ein Mensch, der durch ein Meer aus Honig laufen muss, sich richtig „schwer“ fühlt.

Die Entdeckung des Higgs-Bosons gelang 2012 durch seinen Zerfall in Teilchen, die nur indirekt für den Aufbau unserer materiellen Welt verantwortlich sind. Die kleinsten Bausteine der uns umgebenden Materie (und von uns selbst) heißen Quarks, aus denen Atomkerne und zusammen mit Elektronen schließlich Atome, Moleküle, anorganische und organische Materie aufgebaut sind.

Eine entscheidende Frage bei der Higgs-Entdeckung war daher, ob der Massengebungsmechanismus auch für „unsere“ Materie gilt, das heißt auch für Quarks. Nicht verwunderlich ist es, dass die Experimente, die am Large Hadron Collider (LHC) des CERN in Genf durchgeführt wurden, sich das schwerste Quark für ihre Suche aussuchten, in welches das Higgs zerfallen kann: in ein Paar so genannter bottom-Quarks oder b-Quarks.

Zerfall des Higgs in b-Quarks wird durch andere Reaktionen überdeckt

Die Interaktion des schwersten Quarks mit dem Higgs muss laut Theorie stärker als mit den anderen Quarks sein. Wermes: „Sechs Jahre intensiver Analyse der Messdaten mit immer mehr verfeinerten Computer-Algorithmen hat es gedauert, bis die beiden Experimente ATLAS und CMS den Erfolg ihrer Suche publizieren konnten.“

Grund für die lange Dauer der Untersuchung ist, dass es hoher Experimentierkunst bedarf, den trotz der Stärke der Higgs-Interaktion immer noch recht seltenen Zerfall des Higgs in zwei b-Quarks zu finden. Er wird nämlich milliardenfach von anderen Reaktionen überdeckt, die sich nur unwesentlich von dem Suchobjekt unterscheiden.

Eine wichtige Voraussetzung für den Nachweis war, dass die b-Quarks eine Billionstel Sekunde lang mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, bevor sie selbst auch zerfallen. In dieser Zeit legen sie eine winzige Flugstrecke zurück, wodurch sie sich von den überdeckenden Reaktionen unterscheiden.

Neue Entwicklungen auf dem Gebiet des maschinellen Lernens lieferten schließlich den Durchbruch. An den Analysen war maßgeblich die Arbeitsgruppe um Dr. Tatjana Lenz, Dr. Götz Gaycken und Prof. Wermes vom Physikalischen Institut der Universität Bonn beteiligt.

Fehlerwahrscheinlichkeit ist kleiner als eins zu zehn Millionen

In den Experimenten ist es gelungen, den Zerfall des Higgs in bottom-Quarks zweifelsfrei nachzuweisen. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Entdeckung durch eine statistische Fluktuation vorgetäuscht wurde, ist in jedem der beiden Experimente kleiner als eins zu zehn Millionen.

Dr. Lenz: „Damit ist gezeigt, dass der Mechanismus der Massenerzeugung mit Hilfe des Higgs-Teilchens auch für die Massen `unserer´ Materie, das heißt von Quarks, verantwortlich ist – und zwar genau so, wie es die Theorie von Higgs, Brout und Englert vorhersagt, für die es 2013 den Nobelpreis gab.“

Die Ergebnisse lassen hoffen, dass noch weitere Eigenschaften des Higgs und seine Rolle bei der Entwicklung des Universums am LHC experimentell geklärt werden können. „Es ist ein großer Erfolg einer langen und intensiven Forschung, die nur mit modernsten Techniken und Methoden möglich war“, sagt Wermes. „Ich bin froh, dass es gelungen ist, und sehe den weiteren Experimenten, dieses ominöse Teilchen besser zu verstehen, mit großer Erwartung entgegen.“

Publikation: ATLAS Collaboration: Observation of H → bb̄ decays and VH production with the ATLAS detector, submitted to Phys. Lett. B.

Prof. Dr. Norbert Wermes
Physikalisches Institut
Universität Bonn
Tel. 0228/733533
E-Mail: wermes@uni-bonn.de

Internet: https://arxiv.org/abs/1808.08238

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Weitere Informationen:

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