Galaktischer "Raketenantrieb" erklärt ungewöhnliche Sternbewegungen in Galaxien

Momentaufnahmen der Simulation der Verschmelzung: Links Galaxien vor der Verschmelzung, rechts gegenläufige Zentralregion danach. Bild: B. Moster / MPIA

Bisherige Erklärungsversuche hatten eine spezielle relative Orientierung („retrograd“) der kollidierenden Galaxien vorausgesetzt. Tsatsi entdeckte eine weitere Möglichkeit, solche „gegenläufigen Zentralregionen“ zu erzeugen: Der Massenverlust der beteiligten Galaxien wirkt dabei ähnlich wie eine Art riesiger Raketenantrieb.

In sogenannten elliptischen Galaxien kann es ungewöhnliche Sternbewegungen geben: Während die Sterne in den äußeren Regionen sämtlich in eine Richtung rotieren, kann die gemeinsame Umlaufrichtung der Sterne in der Zentralregion eine ganz andere sein.

Elliptische Galaxien entstehen durch die Kollision und Verschmelzung von zwei (oder mehr) Scheibengalaxien (zu dieser Art gehört auch unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße). Bisherige Erklärungsversuche hatten angenommen, dass gegenläufige Zentralregionen entstehen, wenn eine der Vorläufergalaxien eine schwerkraftstarke Zentralregion besitzt, deren Umlaufsinn relativ zur Umlaufbahn der Vorläufergalaxien umeinander gerade die richtige Ausrichtung besitzt. Dieses Erklärungsmodell sagt allerdings eine geringere Anzahl an gegenläufigen Zentralregionen voraus, als tatsächlich beobachtet werden.

Das war die Ausgangssituation, als Athanasia Tsatsi ihre Forschung als Doktorandin am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg begann und dazu Computersimulationen von Galaxienzusammenstößen auswertete. Tsatsis Ziel war eigentlich, herauszufinden, wie die entstehenden Galaxien durch verschiedene Arten astronomischer Beobachtungsinstrumente aussehen würden.

Stattdessen machte sie beim Blick durch solch ein „virtuelles Beobachtungsinstrument“ eine unerwartete Entdeckung: Die Galaxie, die bei der simulierten Verschmelzung entstand, wies eine gegenläufige Zentralregion auf. Aber die Vorläufergalaxien wiesen nicht die spezielle Orientierung auf, die dem herkömmlichen Erklärungsversuch zufolge Voraussetzung für die Entstehung der Gegenläufigkeit sein sollte!

Das Ergebnis der simulierten Verschmelzung passte zu dem, was aus Beobachtungen bereits über solche gegenläufigen Zentralregionen bekannt war. Die resultierende elliptische Galaxie war mit 130 Milliarden Sonnenmassen eine der massereicheren Vertreterinnen ihrer Gattung; gerade bei massereichen elliptischen Galaxien sind gegenläufige Zentralregionen besonders häufig.

Die Gegenläufigkeit bleibt in der Simulation für rund 2 Milliarden Jahre nach der Verschmelzung nachweisbar; langfristig genug, dass man erwarten kann, bei tatsächlichen Beobachtungen vieler Galaxien Beispiele dafür zu finden. Nicht zuletzt handelt es sich in der Simulation bei den Gegenläufern um ältere Sterne, die bereits lange vor der Verschmelzung entstanden waren; auch das entspricht den tatsächlichen Beobachtungen.

Tsatsis Entdeckung betrifft zunächst einmal einen Einzelfall. Aber das genügt für den Nachweis, dass gegenrotierende Zentralregionen auf diese Weise entstehen können. Als nächstes müssen die Astronomen herausfinden, wie häufig Entstehungsprozesse dieser Art sind – indem sie Galaxienverschmelzungen mit den unterschiedlichsten Anfangsbedingungen untersuchen.

Wenn solche systematischen Tests zeigen, dass der Mestschersky-Mechanismus für die Entstehung gegenläufiger Zentralregionen häufig genug in Erscheinung tritt, könnte dies die Beobachtete Häufigkeit des Phänomens erklären. Aber bereits jetzt hat die Entdeckung von Tsatsi den Blickwinkel der Astronomen auf gegenläufige Zentralregionen und galaktische Verschmelzungen verändert:

Spezielle Konfigurationen der Drehsinne und der gegenseitigen Umlaufbahn verschmelzender Galaxien sind nicht die einzige Möglichkeit, Gegenläufigkeit zu erzeugen. „Galaktische Raketenantriebe“ leisten ebenso gute Dienste.

Kontakt

Athanasia Tsatsi (Erstautorin)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Telefon: (+49|0) 6221 528-328
E-Mail: tsatsi@mpia.de

Glenn Van de Ven (Koautor)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Telefon: (+49|0) 6221 528-275
E-Mail: glenn@mpia.de

Andrea Macciò (Koautor)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Telefon: (+49|0) 6221 528-416
E-Mail: maccio@mpia.de

Markus Pössel (Öffentlichkeitsarbeit)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Telefon: (+49|0) 6221 528-261
E-Mail: pr@mpia.de

Hintergrundinformationen

Die beteiligten Wissenschaftler sind Athanasia Tsatsi, Andrea Macciò und Glenn van de Venn (sämtlich am Max-Planck-Institut für Astronomie) sowie Benjamin Moster (zu der Zeit, als er die Simulationen durchführte, Doktorand am MPIA, inzwischen Postdoktorand an der Universität Cambridge).

Die hier beschriebenen Ergebnisse sind zur Veröffentlichung bei der Fachzeitschrift Astrophysical Journal Letters akzeptiert als Tsatsi et al., „A New Channel for the Formation of Kinematically Decoupled Cores in Early-type galaxies.“

ADS-Datenbankeintrag der Veröffentlichung: http://esoads.eso.org/abs/2015arXiv150200634T

Tsatsi ist Doktorandin an der International Max Planck Research School “Astronomy and Cosmic Physics” in Heidelberg (in Kooperation mit der Universität Heidelberg) und Marie Curie Fellow im DAGAL European Initial Training Network, das sich mit Struktur und Evolution von Galaxien befasst.

Fragen und Antworten

Was ist neu / wichtig an den hier beschriebenen Ergebnissen?

Tsatsis Entdeckung könnte ein bereits länger bekanntes Problem lösen: Warum gibt es soviel mehr gegenläufige Zentralregionen in elliptischen Galaxien als aufgrund der landläufigen Erklärungsansätze zu erwarten? Der „galaktische Raketenantrieb“ zeigt eine neue Entstehungsmöglichkeit auf. Ob das ausreicht, um die beobachtete Häufigkeit der Gegenläufigkeiten zu erklären, müssen jetzt systematische Studien von Verschmelzungssimulationen zeigen.

Was hat es mit den ungewöhnlichen Sternbewegungen in elliptischen Galaxien auf sich, und warum waren sie bisher schwer zu erklären?

Spiralgalaxien wie unsere Milchstraße bieten einem äußeren Beobachter einen organisierten Tanz: alle Sterne laufen auf großen Zeitskalen in derselben Richtung ums galaktische Zentrum um (unsere Sonne benötigt rund 250 Millionen Jahre, um einen Umlauf zu vollenden). Bei einer anderen Sorte von Galaxien, sogenannten elliptischen Galaxien, können die Bewegungsmuster deutlich komplexer sein. Wie der Name sagt, haben diese Galaxien die Form von Ellipsoiden (grob gesprochen: abgeflachten Kugeln). In einer Reihe solcher Galaxien gibt es allerdings ein zweifaches Umlaufmuster: Während die Sterne in den äußeren Regionen in eine Richtung rotieren, kann die gemeinsame Umlaufrichtung der Sterne in der Zentralregion eine ganz andere sein. Dann hat man es mit einer „gegenläufigen Zentralregion“ oder, allgemeiner, mit einer „kinematisch entkoppelten Zentralregion“ zu tun, deren Sternbewegungen offenbar ganz unabhängig von dem sind, was im Rest der Galaxie passiert.

Zur Erklärung solcher entkoppelten Zentralregionen verweisen Astrophysiker auf die Entstehungsgeschichte der betreffenden Galaxien. Dem heutigen Verständnis nach sind elliptische Galaxien das Ergebnis der Verschmelzung von zwei oder mehr größeren Vorläufergalaxien (vgl. Abbildung 1). Das liefert eine eingängige Erklärungsmöglichkeit: Stellen Sie sich vor, die Zentralregion einer der Vorläufergalaxien werde durch die Schwerkraft der darin versammelten Masse besonders gut zusammengehalten. Stellen Sie sich weiterhin vor, der Umlaufsinn der Sterne in jener Vorläufergalaxie sei gerade gegenläufig zu dem Umlaufsinn, mit dem die beiden Vorläufergalaxien sich vor der Verschmelzung umkreisen („retrograde Verschmelzung“, siehe Abb. 2). Unter solchen Bedingungen scheint plausibel, dass die stabile Zentralregion nach der Verschmelzung die Zentralregion der neuen elliptischen Galaxie wird, und dass die Sterne darin in genau der gleichen Richtung umlaufen wie vorher. Die umgebenden Sterne dagegen werden in der Gegenrichtung rotieren, dem Drehsinn folgend, in dem die Vorläufergalaxien vor der Verschmelzung umeinander kreisten.

Dieser Zusammenhang ist plausibel, kann allerdings nur einen Teil der gegenläufigen Zentralregionen erklären. Insgesamt weist mehr als die Hälfte der massereichsten elliptischen Galaxien kinematisch entkoppelte Zentralregionen auf. Das ist deutlich mehr als das geschilderte Szenario erklären kann. Schließlich würde man erwarten, dass die Galaxie mit der enger gebundenen Zentralregion nur in der Hälfte der Fälle entgegen der Umlaufrichtung des Galaxienpaares rotiert – und nicht bei allen der Verschmelzungen, die sich anschließen, dürfte sich eine gegenläufige Zentralregion ergeben.

Wie kam es zu Tsatsis Entdeckung eines neuen Entstehungsprozesses für gegenläufige Zentralregionen?

Tsatsi sah sich Computersimulationen von Galaxienverschmelzungen an. Diese Simulationen zeigen die Entstehung einer elliptischen Galaxie durch die Verschmelzung zweier Spiralgalaxien, und Tsatsis Aufgabe bestand darin, das Erscheinungsbild der resultierenden Galaxie für astronomische Beobachter zu rekonstruieren: Was würden solche Beobachter auf ihren Kameraaufnahmen und bei ihren spektroskopischen Messungen sehen können? Solche Brückenschläge sind der Schlüssel dazu, die Vorhersagen aus den Simulationen mit tatsächlichen Beobachtungen zu vergleichen.

Die Simulationen, die Tsatsi als Ausgangspunkt nach, waren von Benjamin Moster während seiner Zeit als Doktorand am MPIA in der Arbeitsgruppe von Andrea Macciò erstellt worden (inzwischen ist Moster an der Universität Cambridge). Sie basieren auf der von Volker Springel und Kollegen entwickelten kosmologischen Simulations-Software GADGET, die Galaxien als Ansammlung einer Vielzahl von Teilchen modelliert; einige davon stehen für die Sterne der Galaxie, andere für deren Gas und Dunkle Materie. Der GADGET-Code ist dafür gemacht, parallel auf einer Vielzahl von Prozessoren zu laufen. So werden große und doch detaillierte Simulationen möglich.

Die wichtigste Beobachtungstechnik in Tsatsis Rekonstruktionsarbeit war die sogenannte Integralfeld-Spektroskopie. Bei dieser Art von Beobachtung nehmen Astronomen gleichzeitig Spektren einer Vielzahl verschiedener Regionen einer Galaxie auf, mit anderen Worten: Sie spalten das Licht vieler verschiedener Regionen des Bildes, das uns die Galaxie am Nachthimmel bietet, in fein aufgeteilte Regenbogenfarben auf. Bewegt sich ein Stern auf den Beobachter zu oder von ihm weg, wird sein Licht hin zu kürzeren bzw. längeren Wellenlängen verschoben (Dopplerverschiebung, konkret: Blauverschiebung bzw. Rotverschiebung). Solche Verschiebungen lassen sich im Spektrum des Sterns nachweisen. Durch solche Messungen kann die Integralfeld-Spektroskopie nachweisen, in welchen Teilen der Galaxie sich die Sterne im Mittel auf uns zu bzw. von uns wegbewegen. Auf der Grundlage solcher Beobachtungen können Astronomen die Sternbewegung in einer Galaxie rekonstruieren und daraus wiederum Rückschlüsse auf die Massenverteilung in der Galaxie ziehen.

Als Tsatsi die Integralfeld-spektroskopischen Messungen für eine ganz bestimmte der Simulationen rekonstruierte, fiel ihr ein ungewöhnlicher Umstand auf. Die von ihr rekonstruierte Karte der Sternbewegungen innerhalb der Galaxie zeigte, dass sich die Sterne in der Zentralregion anders bewegten als die anderen Sterne der Galaxie (vgl. Abbildung 3). Mit anderen Worten: die betreffende Galaxie hatte einen gegenläufigen Kern. Allerdings war dies eine Verschmelzung gewesen, bei der die Vorläufergalaxien jede für sich den gleichen Drehsinn hatten, mit dem sie vor der Verschmelzung umeinander umliefe – nach herkömmlicher Interpretation demnach eine Sorte von Verschmelzung („prograd“), bei der gar kein gegenläufiger Kern hätte entstehen dürfen (vgl. Abbildung 2)! Als Tsatsi die Simulation daraufhin genauer ansah, konnte sie beobachten, was all ihren Vorgängern entgangen war: Beim Umlauf der Zentralregionen der beiden Galaxien umeinander kommt ein Moment, in dem sich die Umlaufrichtung umkehrt. Die Umkehr findet statt, während die beiden Galaxien gerade signifikante Mengen an Masse verlieren – bei derartigen Verschmelzungen ist es üblich, dass die Galaxien aufgrund ihrer gegenseitigen Schwerkraftwirkung Sterne insbesondere aus ihren äußeren Regionen verlieren (vgl. Abbildung 4).

Was ist der Mestschersky-Mechanismus?

Bei ihrer Literaturrecherche fand Tsatsi einen Präzedenzfall für das Phänomen, das sie an den verschmelzenden Galaxien beobachtet hatte. Was dort geschieht, hängt eng mit dem Spezialfall eines Problems zusammen, das der russische Mathematiker Iwan Wsevolodowitsch Mestschersky (manchmal geschrieben „Meshchersky“) untersucht hatte: Punktteilchen, deren Masse sich mit der Zeit verändert und die sich unter ihrem wechselseitigen Schwerkrafteinfluss bewegen. Durch die Massenänderung kommen dabei zusätzliche Kräfte ins Spiel, die auch Mestschersky-Kräfte genannt werden. Das bekannteste Beispiel für solche Kräfte tritt beim Raketenantrieb auf – die Rakete stößt aus ihrer Düse heiße Gase aus; dadurch wirkt auf die Rakete eine Kraft in Gegenrichtung und die Rakete wird beschleunigt (vgl. Abbildung 3). Das liefert die Erklärung dafür, dass selbst bei Galaxienverschmelzungen mit einheitlicher Drehrichtung (prograde Verschmelzung) gegenläufige Zentralregionen entstehen können: der Massenverlust der beiden Galaxien hat dieselbe Wirkung wie ein gigantischer Raketenantrieb und kann stark genug sein, um die Umlaufrichtung der Sterne umzukehren, die sich am Ende in der Zentralregion der neu entstandenen Galaxie wiederfinden. Diese Art der Erzeugung gegenläufiger Zentralregionen nennt Tsatsi den Mestschersky-Mechanismus.

http://www.mpia.de/news/wissenschaft/2015-04-galaktischer-raketenantrieb – Webversion der Pressemitteilung mit zusätzlichen Abbildungen und Download-Bereich

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Dr. Markus Pössel Max-Planck-Institut für Astronomie

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