Natürliche Bewegungen mit künstlichem Bein

Schritt für Schritt geht Florian Dennerlein die Treppe hinauf. Stufe um Stufe. Rechtes Bein anheben, Knie anwinkeln, Bein ein kleines Stück nach vorne versetzen, absetzen, auftreten, Gewicht verlagern. Dann kommt das linke Bein. Nach zwölf Stufen ist er am Ziel. Ganz ohne fremde Hilfe und relativ flott – für Florian ein kleines Wunder, denn eigentlich hat er kein rechtes Bein. Er ist ein Unterschenkelamputierter, wie es unter Medizinern heißt.

Florian trägt eine Prothese, die sein Leben enorm vereinfacht hat. Früher waren Treppenstufen eine sehr mühsame und holprige Angelegenheit. Jetzt kann Florian die Prothese viel feiner steuern. Und willkürlich – so wie es auch bei Menschen mit zwei Beinen funktioniert: Gehen, Rennen, Treppensteigen sind natürliche Bewegungsabläufe, über die man nicht bewusst nachdenken muss, weil das Gehirn die Muskeln willkürlich steuert. So können diese zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Intensität kontrahiert werden.

Forscher des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart stellen auf der Messe Sensor+Test 2010 ein Steuerungssystem vor, mit dem Prothesenträger das künstliche Bein willkürlich steuern können. Im Schaft der Prothese sitzen Sensoren, die Signale an den verbleibenden Muskeln abgreifen und in eine entsprechende Bewegung der Prothese umwandeln. Bisherige Prothesen mit Willkürsteuerung hatten einen entscheidenden Nachteil: Spannt ein Träger etwa im Sitzen unbewusst einen Beinmuskel an, reagiert das Kunstbein darauf und das Kniegelenk der Prothese streckt sich. Unbeabsichtigte Bewegungen mögen manchmal vielleicht komisch aussehen, auf der Treppe etwa kann ein unkontrolliertes Beinausschlagen aber auch zur Gefahr für Menschen wie Florian werden. Auch plötzlich auftauchende Hindernisse wie etwa eine Türschwelle sind für den Betroffenen ein Problem, wenn er sie nicht rechtzeitig erkennt. Denn nur dann kann er die Prothesenbewegung entsprechend abstimmen.

„Unser neues Steuerungssystem merzt diese Gefahrenquellen aus und ermöglicht eine wesentlich intuitivere Kontrolle“, sagt Projektleiter Harald von Rosenberg. Hinter dem System steckt eine ausgeklügelte Technik: Im Schaft der Prothese befindet sich ein Array aus Sensoren, das sämtliche Aktivitätssignale der verbliebenen Beinmuskeln misst. Daraus muss das System anhand von Signalmustern das ideale Muskelsignal bestimmen. „Das heißt, es muss den Wunsch des Prothesenträgers erkennen“, erklärt von Rosenberg. Gleichzeitig registrieren die Sensoren aber auch, in welchem Bewegungszustand sich der Prothesenträger gerade befindet. „Die Prothese weiß also quasi, ob ihr Träger gerade sitzt oder liegt, steht, geht oder rennt. Oder ob er sich gerade bückt oder sich hinkniet.“ Dabei helfen Drucksensoren, die wie ein Sandwich unter den elektronischen Sensoren liegen und zum Beispiel erkennen, dass der Amputierte gerade sein gesamtes Gewicht auf das Prothesenbein verlagert hat.

Beide Informationen – also Muskelaktivitätssignal und Bewegungszustand – verwandelt das System in ein sogenanntes Willkürsignal. Dieses Signal löst die richtige Bewegung der Prothese aus und passt auch etwa deren aktuelle Dämpfung an die Bewegung an. Der Clou an dem System: Die Bestimmung des Willkürsignals erfolgt in Echtzeit. „So nähert sich die Verwendung von künstlichen Extremitäten immer mehr dem natürlichen Bewegungsablauf“, sagt von Rosenberg.

Die Forscher sehen aber noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten für ihre Erfindung, denn es handelt sich um eine Mensch-Maschine-Schnittstelle, die etwa bei der Bedienung von Geräten große Fortschritte bringen könnte. Jogger, die bei der morgendlichen Runde im Park auf Musik nicht verzichten wollen, hätten zum Beispiel ein leichteres Spiel: Anstatt umständlich während des Laufens nach den Knöpfen des MP3-Players in der Hosentasche zu tasten, spannen sie einfach den Muskel im Oberarm, und das nächste Lied ertönt. Wie die Steuerung funktioniert, demonstrieren die Forscher auf der Messe Sensor+Test 2010 an einer Flippermaschine. Sensoren, die auf den Unterarm geklebt werden, registrieren die Muskelanspannung des Spielers. So steuert er, ohne Knöpfe drücken zu müssen, mit der Kraft seiner Gedanken willkürlich die Kugel.

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