Signalkodierung und Informationsverarbeitung im Gehirn: Wenige Neuronen für präzise Informationsverarbeitung nötig

Unser Gehirn leistet Tag für Tag Unglaubliches: es ermöglicht uns, uns in unserer Umwelt mit all ihren großen und kleinen Schwierigkeiten zurechtzufinden.

Es besteht aus vielen Milliarden kleinen Bauteilen, den Nervenzellen. Diese Nervenzellen, auch Neuronen genannt, sind die Rechenelemente, deren Aktivität komplexe Phänomene wie Denken oder Wahrnehmung produziert.

Anders als Rechenelemente in modernen Computern sind Neuronen allerdings äußerst launisch. Präsentiert man zum Beispiel einem Neuron, welches für visuelle Wahrnehmung zuständig ist, hundertmal hintereinander das gleiche Bild, wird man hundert leicht unterschiedliche Reaktionen erhalten.

Nach einer gängigen Theorie zählt daher im Gehirn die Aktivität eines einzelnen Neurons wenig; stattdessen nimmt man an, dass Informationen in großen Nervenzellverbünden – bestehend aus Tausenden von Neuronen – gespeichert sind, wobei jedes einzelne Neuron nur einen Bruchteil der Information liefert. Nach dieser Theorie ist das Gehirn verschwenderisch angelegt – es begnügt sich lieber mit mehreren Milliarden unzuverlässigen Bauteilen, um seine Aufgaben zu verrichten, als sich auf wenige, dafür aber zuverlässige Bauteile zu verlassen.

Maik Stüttgen und Cornelius Schwarz vom Tübinger Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung stellen diese Ansicht mit ihrer neu erschienen Studie (Online-Vorabveröffentlichung von Nature Neuroscience) auf den Kopf. Die Tübinger Forscher fragten sich, wie viele Nervenzellen eigentlich notwendig sind, um eine relativ einfache Aufgabe zu bewerkstelligen, nämlich den Zeitpunkt eines kurzen und schwachen Sinnesreizes anzuzeigen.

Hierzu dressierten die zwei Wissenschaftler Ratten auf genau diese Aufgabe. Die Ratten sollten den Forschern den Zeitpunkt anzeigen, an dem eines ihrer Schnurrhaare (Vibrissen) bewegt wurde. Dies ist für Ratten nicht weiter schwierig – die extrem kurzsichtigen Tiere setzen ihre Schnurrhaare sehr geschickt zur räumlichen Orientierung und Objekterkennung ein, und können mit 25-30 dieser dünnen Tasthaare auf beiden Seiten der Schnauze Gegenstände ähnlich gut unterscheiden wie Menschen mit ihren fünf Fingern.

Als die Forscher jedoch die Aktivität einzelner Nervenzellen in der Großhirnrinde der Tiere beobachteten, ergab sich Überraschendes: nicht nur, dass sich lediglich ein Bruchteil der verfügbaren Zellen überhaupt die Mühe machte, die leichten Berührungen zu signalisieren. Selbst die relativ wenigen Zellen, die dies taten, zeigten nur eine minimale Reaktion, und dies auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, genau genommen eine vierzigstel Sekunde. Im Wissenschaftsjargon wird eine derartige Informationskomprimierung als 'sparse coding' bezeichnet – d.h. Information (hier die An- oder Abwesenheit eines Reizes) wird auf eine hoch effiziente Art und Weise übermittelt.

Die Frage war nun, wie viele Neuronen theoretisch nötig sind, um die schwachen Signale, die zu nicht genau bekannten Zeitpunkten präsentiert wurden, ebenso gut wie die Ratte zu detektieren. Stüttgen und Schwarz nutzten die mathematische Maschinerie der so genannten receiver operating characteristic (ROC), einer Methode, die schon im 2. Weltkrieg zur Auswertung von Radarbildern genutzt wurde, und setzten Computersimulationen ein, um dies zu berechnen.

Das Ergebnis dieser Analyse zeigt, dass hierfür im Prinzip nur ein sehr kleiner Nervenzellverbund von fünf gleichzeitig aktiven Neuronen benötigt wird. Diese sehr kleine Zahl steht in deutlichem Kontrast zur gängigen Annahme, dass nur extrem große Nervenzellverbünde Signale verlässlich verarbeiten können.

Diese Resultate haben weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Signalkodierung und Informationsverarbeitung im Gehirn.

Das Ergebnis zeigt, dass nur wenige Neuronen nötig sind, um Informationen extrem präzise und zuverlässig verarbeiten können. In Verbindung mit der gigantischen Zahl von möglicherweise Hundert Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns bedeutet dies, dass die Informationskapazität dieses biologischen Apparats noch größere Ausmaße besitzt als bislang erahnt.

Titel der Originalarbeit
Stüttgen M.C. and Schwarz C. (2008) Psychophysical and neurometric detection performance under stimulus uncertainty. Nat. Neurosci. DOI 10.1038/nn.2162
Ansprechpartner für nähere Informationen:
Universitätsklinikum Tübingen
Zentrum für Neurologie, Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
PD Dr. Cornelius Schwarz
Otfried Müller Str. 27, 72076 Tübingen
Tel. 07071/29-8 04 62, Fax 07071/29-57 24
E-Mail: cornelius.schwarz@uni-tuebingen.de

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