Rückenschmerzen – eine Frage der Mechanik

Mit Hilfe des Programms Open Sim der Universität Stanford berechnet die Empa die Kraftverteilung im Rücken, wenn ein Mensch eine Last hebt. Empa

Die einen sagen, Rückenschmerzen seien der Preis für den aufrechten Gang. Die anderen sagen, das Problem der Rückenschmerzen habe erst begonnen, als der Mensch sich hingesetzt hat, um nachzudenken: Mangelnde Bewegung schwächt die Muskeln, dazu kommt Stress im Privatleben oder am Arbeitsplatz. Die Rückenmuskeln verkrampfen und tun weh.

Meist lässt sich das Problem durch Lockerung und Stärkung der Rückenmuskeln beheben. Doch bei jedem siebten Betroffenen gelingt dies nicht; selbst die Verabreichung von Opiaten hilft dann nicht mehr. Nur eine Operation kann das Leiden beenden.

In schweren Fällen werden defekte Rückenwirbel oder Bandscheiben mit einer Metallkonstruktion überbrückt (intervertebrale Fusion). Das fixierte Segment verknöchert und kann zunächst keine Schmerzen mehr auslösen. Doch derartige Reparatur-Operationen bringen den Patienten nur für wenige Jahre Linderung, dann tritt das Problem an den benachbarten Wirbeln erneut auf. Die Frage ist: Warum ist das so, und wie könnte man das verhindern?

Bernhard Weisse forscht mit seinem Team an der Empa an genau diesen mechanischen Fragen. Um zu verstehen, warum und wie schnell eine Bandscheibe verschleisst, müssen die Forscher die Kräfte kennen, die in diesem Bereich wirken. Und dazu wiederum braucht es eine exakte Kenntnis der Form, der Elastizität und der Beweglichkeit der einzelnen Elemente – es ist eine Fragestellung für Maschinenbauingenieure.

Der Skelett-Simulator

In einem ersten Schritt feilten die Empa-Forscher an der theoretischen Grundlage: Weisses Team fütterte Wirbelsäulengeometriedaten von 81 Patienten in das Computerprogramm Open Sim – ein von der Stanford University entwickeltes, weltweit genutztes Simulationsprogramm für den menschlichen Bewegungsapparat. Dann galt es, die Biomechanik in der Computersimulation möglichst genau abzubilden: Verhält sich eine Bandscheibe wie ein Kugelgelenk? Oder eher wie ein Gummilager? Welchen Einfluss haben die Muskeln dabei – bleibt das Gummilager immer gleich steif, oder verändert sich die Steifigkeit, abhängig vom Biegungswinkel? Hierfür arbeitete die Empa mit dem Laboratorium für orthopädische Biomechanik der Uniklinik Balgrist (Universität Zürich) und dem Institut für Biomechanik der ETH Zürich zusammen.

Den Wissenschaftlern gelang es mit Hilfe des Computermodells, die Mechanik nachzubilden. Ergebnis: bei Menschen mit einer bestimmten Fehlstellung der Wirbelsäule die Bandscheiben schon im gesunden Zustand um bis zu 34 Prozent stärker belastet. Geht eine Bandscheibe kaputt und wird überbrückt, steigt die Belastung in den Nachbargelenken noch weiter an und kann bis zu 45 Prozent höher sein als beim Menschen ohne diese Fehlstellung.

Individuelle Therapie-Empfehlungen werden möglich

Doch allein die Computeranalyse eines Gesundheitsproblems reicht nicht. Ziel ist es, für jeden Patienten eine individuelle Diagnose zu stellen und die passende Therapie zu empfehlen. Eine Kooperation mit US-Wissenschaftlern, finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds, half hier weiter: Forscher der University of Pittsburgh haben ein neuartiges 3-D-Röntgen-Videosystem entwickelt.

Es nennt sich «Digital Stereo-X-Ray Imaging» (DSX) und kann die Bewegung der Wirbelsäule mit 250 Bildern pro Sekunde wiedergeben, während die Position der Wirbel auf 0,2 Millimeter genau zu sehen ist. Der Trick dabei: Die unscharfen Röntgenbilder der Bewegung werden mit scharfen CT-Bildern des still liegenden Patienten im Computer kombiniert.

Einer der dort tätigen Forscher, Ameet Aiyangar, war bereits im Jahr 2009 als Gastwissenschaftler an der Empa und kehrt nun an die Empa zurück. In Pittsburgh hat er zwölf gesunde Menschen Gewichte heben lassen und hochauflösende Filme ihrer Wirbelsäulenbewegung produziert. Derzeit ist Aiyangar dabei, die aufgenommenen Röntgenfilme mit den Computermodellen des jeweiligen Probanden abzugleichen.

Nachdem das Modell für gesunde Menschen stimmig ist, wollen die Forscher mit dieser Methode die Problematik der Spondylodese (Wirbelkörperverblockung) untersuchen. Dazu werden Patienten vor und nach der Operation mit dem DSX-System gefilmt und die Bewegung ihrer Wirbel analysiert. So lässt sich bestimmen, welche Kräfte im Bereich der unteren Wirbelsäule vor der Operation gewirkt haben und was die Überbrückung der Wirbel an dieser Kräfteverteilung geändert hat. Die Untersuchung wird helfen, den Verschleiss von Rückenwirbeln besser zu verstehen und die Ursache von Schmerzen im unteren Rückenbereich genauer zu lokalisieren.In Zukunft könnte es eine derartige Computeranalyse für alle Rücken-OP-Patienten geben.

http://www.empa.ch/plugin/template/empa/3/157682/—/l=1
https://flic.kr/s/aHsk9JU5H8

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Rainer Klose EMPA

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