Objektive Erfassung der motorischen Fatigue bei Patienten mit Multipler Sklerose: ein neuer Weg

Erfassung der kinematischen Daten Lurija Institut

Die bisherigen Versuche, die motorische Fatigue objektiv zu erfassen, brachten keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung vom Prof. Dr. Christian Dettmers und Prof. Dr. Manfred Vieten hatte das Ziel, der Untersuchung und objektiven Erfassung motorischer Fatigue bei MS-Patienten. Mit Hilfe einer neuen Methode konnte die motorische Fatigue zum ersten Mal sowohl auf der Gruppen- als auch auf der Individualebene objektiv erfasst werden.

Im Rahmen des Projektes zur objektiven Erfassung motorischer Fatigue wurden insgesamt vier aufeinander aufbauende empirische Studien durchgeführt:

In Studie Nr. 1 wurde ein erster Versuch unternommen, die motorische Fatigue bei MS-Patienten mit Hilfe einer konventionellen Gangbildanalyse zu erfassen. An dieser Untersuchung nahmen insgesamt 14 MS-Patienten teil. Sie gingen auf dem Laufband bei einer für sie komfortablen Gehgeschwindigkeit bis zur subjektiven körperlichen Erschöpfung. Dabei wurden die kinematischen Daten des Bewegungsmusters der Teilnehmer am Anfang und am Ende des Gehens erfasst (siehe Abb. 1).

Der Studie lag die Annahme zu Grunde, dass sich das Bewegungsmuster bei Patienten mit motorischer Fatigue im erschöpften Zustand verändern wird. Dies bestätigte sich im Ergebnis auf Gruppenebene. Auf der Gruppenebene konnten deutliche Veränderungen sowohl in den Gangparametern als auch in der Gangvariabilität festgestellt werden. Die Variabilität der Bewegungen hatte mit der körperlichen Erschöpfung deutlich zugenommen.

Um auch für einzelne Patienten die individuelle Veränderungen darstellen zu können, wurde in Studie Nr. 2 ein neues Verfahren zur Quantifizierung von Veränderungen im Gangmuster entwickelt. Hierbei wurden die Eigenschaften des Grenzzyklus-Attraktors herangezogen, der auf der Theorie dynamischer Systeme (Chaostheorie) aufbaut.

Ziel war es, mit Hilfe von Attraktoreigenschaften die Unterschiede im Gangmuster in verschiedenen Situationen sowohl auf Gruppen- als auch auf Individualebene zu identifizieren und zu klassifizieren. Das neuartige Verfahren erkennt Unterschiede in der Gangcharakteristik und in der Gangvariabilität. Derzeit ist keine andere Methode bekannt, die präzise genug ist, eine Quantifizierung des Bewegungsmusters auf dieser Art anzubieten. Der neu entwickelte Ansatz versucht, diese Lücke zu schließen.

In dieser Studie nahmen 30 Gesunde teil. Diese wurden an zwei verschiedenen Tagen beim Gehen auf einem Laufband unter drei verschiedenen Bedingungen getestet: Gehen ohne Aufgabe, „dual task“-Gehen mit einer mentalen Aufgabe und Gehen mit Gewichten an den Füssen.

Die Daten wurden durch Beschleunigungssensoren an den Füßen gewonnen und mit Hilfe der neuartigen Methode analysiert. Hierfür wurde für jeden Probanden und jeden Messzeitpunkt die Änderung von Attraktor δM und Bewegungsvariation δD berechnet: δM ist ein Maß für die Differenz zweier Attraktoren (die Abweichung bei zwei gleichen Bewegungen) (siehe Abb. 2). δD zeigt den Unterschied in der Bewegungsvariation um die zugehörigen Attraktoren an (ein Maß für die Änderungen in Bewegungsvariation).

Abschließend wurde δF gebildet: δF ist eine Kombination der beiden vorher berechneten Parameter und ein repräsentativer Index der Bewegungsänderung.

Mit der neuen Methode konnte erfolgreich zwischen den drei verschiedenen Bedingungen des Gehens unterschieden werden. Die Reproduzierbarkeit, die durch wiederholte Messungen überprüft wurde, zeigte eine hervorragende Reliabilität für δM und eine gute Reliabilität für δD.

In Rahmen der Studie Nr. 3 wurde das neu entwickelte Verfahren zur Quantifizierung der motorischen Fatigue bei Patienten mit Multipler Sklerose herangezogen. Wie bereits in der vorherigen Studie beschrieben wurde, erkennt das neuartige Verfahren die Unterschiede in der Gangcharakteristik und in der Gangvariabilität.

Diese Unterschiede können Änderungen neurologischer Natur zugeordnet werden. Damit wird dieses Verfahren zum Diagnostik-Instrument, welches motorische Fatigue bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) quantifizieren kann. Das Grundprinzip besteht darin, dass das Bewegungsmuster beim Einsetzen von Fatigue Veränderungen zeigt. Durch Ausschließen anderer Ursachen wird Fatigue als Grund für Änderungen im Bewegungsmuster und in der Bewegungsvariabilität identifiziert. Dies ermöglicht motorische Fatigue erstmalig zu quantifizieren.

An den klinischen Untersuchungen haben insgesamt 40 MS-Patienten und 20 gesunde Probanden teilgenommen. Die Teilnehmer wurden einer körperlichen Belastung am Laufband ausgesetzt. Mit Hilfe von 3D-Aufnahmen wurden die kinematischen Daten über die Bewegungsabläufe auf einem Laufband vor und nach der auftretenden Fatigue gewonnen.

Die kinematischen Daten wurden mit Hilfe der neuen Methode zur Quantifizierung der Datenzeitreihen analysiert. Hierfür wurde für jeden Probanden und jeden Messzeitpunkt die Änderung des Attraktors (δM) und seiner Standardabweichung (δD) berechnet. Zur abschließenden Beurteilung des Betroffenheitsgrades durch Fatigue wurde für jeden Probanden ein Fatigue Index Kliniken Schmieder (FKS) gebildet.

In der Auswertung auf Gruppenebene wurde erkennbar, dass die MS-Patienten mit Fatigue im Gegensatz zu MS-Patienten ohne Fatigue und gesunden Probanden ein anderes Gangbild zeigten; sowohl am Anfang als auch am Ende des Gehens. Mit dieser neuen Methode können zum ersten Mal auf der individuellen Ebene die Veränderungen des Gangbildes unter Erschöpfung objektiv erfasst und mit Hilfe vom FKS motorische Fatigue im Einzelfall sicher dokumentiert und diagnostiziert werden. Die neuen Erkenntnisse sollen eine schnelle, objektive und zuverlässige Beurteilung des Betroffenheitsgrades durch motorische Fatigue mit Hilfe der kinematischen Ganganalyse ermöglichen.

In Studie Nr. 4 wurde der Fatigue Index Kliniken Schmieder zur Messung der motorischen Fatigue bei Patienten nach einem Schlaganfall eingesetzt. Das Ziel dieser Untersuchung war, einen Vergleich der motorischen Fatigue anhand der empirischen Daten zwischen den Patienten nach Schlaganfall und Patienten mit Multipler Sklerose durchzuführen. Fatigue gehört auch bei Patienten nach einem Schlaganfall zu einem der häufigsten und zu einem der am meisten belastenden Symptome. Im Gegensatz zur MS-Forschung ist die Erforschung der Fatigue bei Schlaganfallpatienten noch in ihren Anfängen.

An dieser Studie nahmen 10 chronische Schlaganfallpatienten teil. Alle Schlaganfallpatienten zeigte eine chronische Hemiparese. Mit allen Patienten wurde ein identischer Belastungstest mit denselben Messinstrumenten wie bei den MS-Patienten durchgeführt. Somit konnte zunächst überprüft werden, ob der FKS für eine objektive und präzise Erfassung von motorischer Fatigue auch bei Patienten nach einem Schlaganfall eingesetzt werden kann. Weiterhin konnte das Ausmaß von motorischer Fatigue zwischen den beiden Patientengruppen (Schlaganfall und MS) verglichen werden. Dafür wurden die Daten von MS-Patienten aus der vorherigen Studie herangezogen. Außerdem es wurde untersucht, ob bereits bestehende Gangbildbeeinträchtigungen den FKS negativ beeinflussen können.
In dieser Studie zeigten die Patienten nach einem Schlaganfall ein ähnliches Ausmaß an motorischer Fatigue wie die Patienten mit Multipler Sklerose. Der Fatigue Index Kliniken Schmieder erwies sich dabei als robust gegenüber den bestehenden chronischen Gangbeeinträchtigungen.

Publikationen
1. Sehle et al. (2011). Objective assessment of motor fatigue in multiple sclerosis using kinematic gait analysis: a pilot study. Journal of NeuroEngineering and Rehabilitation 2011 8:59. doi:10.1186/1743-0003-8-59

2. Vieten MM, Sehle A, Jensen RL (2013). A Novel Approach to Quantify Time Series Differences of Gait Data Using Attractor Attributes. PLoS ONE 8(8): e71824. doi:10.1371/journal.pone.0071824

3. Sehle A, Vieten M, Sailer S, Muendermann A, Dettmers C (2014). Objective assessment of motor fatigue in multiple sclerosis: the Fatigue index Kliniken Schmieder (FKS) Journal of Neurology; 261(9):1752-62. doi: 10.1007/s00415-014-7415-7

4. Sehle A, Vieten M, Mündermann A and Dettmers C (2014). Difference in motor fatigue between patients with stroke and patients with multiple sclerosis: a pilot study. Front. Neurol. 5:279. doi: 10.3389/fneur.2014.00279

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