Lebenskrise oder Krankheit – wo verläuft die Grenze?

Angesichts der drastisch zunehmenden Krankheitstage und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen muss sich die Solidargemeinschaft heute fragen, welche Voraussetzungen sie an die Erstattung therapeutischer Leistungen knüpfen will. Auf ihrem Hauptstadtsymposium in Berlin plädiert die DGPPN dafür, nicht jedes seelische oder soziale Leid zur psychischen Krankheit zu erklären und Krankheitsdiagnosen auf medizinisch relevantes Leiden zu beschränken.

Die Frage, wo und wann Krankheit beginnt, stellt sich nicht nur im Bereich der psychischen Gesundheit. Auch bei körperlichen Erkrankungen wie Bluthochdruck ist es keinesfalls klar und einfach zu bestimmen, ab welchen Schwellen nun wirklich eine manifeste Erkrankung sowie Behandlungsbedarf vorliegt.

„Die Diagnose psychischer Störungen, ist in der Regel zumindest ebenso zuverlässig wie die Diagnostik vieler körperlicher Erkrankungen – auch wenn sich dort häufig ‚objektive‘ Laborparameter heranziehen lassen. In beiden Fällen braucht es eine Konvention für Schwellenwerte, ab denen eine Diagnose gestellt wird. Auch wenn es beispielsweise bei depressiven Erkrankungen viele Fälle gibt, bei denen die Diagnose unzweifelhaft ist, gibt es auch solche, die sich in einem Grenzbereich bewegen. Hier ist eine klare Unterscheidung zu alltäglicher Verstimmung sowie Traurigkeit notwendig und die Diagnose muss im Einzelfall gut abgewogen werden“, erläutert Professor Frank Jacobi von der Technischen Universität Dresden.

Die Stellung einer medizinischen Diagnose ist u. a. deshalb kritisch, weil sich daraus ein Anspruch auf therapeutische Leistungen zu Lasten der Solidargemeinschaft ergibt. Lässt es sich zum Beispiel rechtfertigen, aus überdurchschnittlichem Nachlassen von Gedächtnisleistungen im Alter bereits eine Krankheitsdiagnose abzuleiten? Sind Menschen, die den Anforderungen des beruflichen Alltags nicht mehr gewachsen sind und sich ausgebrannt fühlen, psychisch krank? Wann wird eine physiologisch ‚gesunde‘ Trauer um eine nahestehende Person zur Krankheit ‚Depression‘?

„Krankheitsdiagnosen kennzeichnen den medizinischen Versorgungsbedarf und rechtfertigen die Inanspruchnahme und Erstattung medizinischer Leistungen wie Psychotherapie, psychosoziale Interventionen und der Einsatz von Medikamenten im Rahmen der Krankenkassenleistungen. Deshalb plädieren wir als wissenschaftliche Fachgesellschaft dafür, alltägliche Befindlichkeitsstörungen nicht vorschnell zu behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen zu erklären.

In jedem Fall zeigt die Diagnose einer psychischen Störung einen Beratungsbedarf an, was zu einer medizinischen oder psychotherapeutischen Behandlung führen kann, aber nicht muss. Vielmehr können gegebenenfalls auch die Fähigkeiten zur Selbsthilfe und -regulation aktiviert werden. Die Resilienz, der Schutz vor Krankheitsanfälligkeit, kann auf diesem Weg evtl. sogar nachhaltiger gestaltet werden“, sagt DGPPN-Präsident Professor Wolfgang Maier.

Aus Sicht der DGPPN müssen sich Krankheitskonzepte auf medizinisch signifikantes Leiden beschränken. „Das ist dann der Fall, wenn psychische Funktionen und die soziale Teilhabe wesentlich beeinträchtigt sind und die betroffene Person darunter leidet. In diesem Sinn ist nicht jede Lebenskrise eine Erkrankung – auch wenn sie sich zum Beispiel psychotherapeutisch gut behandeln ließe“, stellt DGPPN-Vorstandsmitglied Professor Andreas Heinz fest.

„Wir müssen bei der Diskussion des Krankheitsbegriffs in Psychiatrie und Psychotherapie vermeiden, dass harmlosere Befindlichkeitsstörungen und gesellschaftliche Probleme sowie normale Alterungsprozesse pathologisiert werden. Gleichzeitig ist zu gewährleisten, dass diejenigen, die eine adäquate medizinische Hilfe am meisten benötigen, diese auch erhalten“, so Heinz weiter.

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Jürg Beutler idw - Informationsdienst Wissenschaft

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