Leben mit Bipolaren (manisch-depressiven) Störungen in der beschleunigten Welt

Eine neue Leitlinie gibt Hilfestellung für die Behandlung der Bipolaren Störung. Fünf Jahre lang haben Psychiater, Psychotherapeuten, Fachgesellschaften, Patienten und ihre Angehörigen eng zusammengearbeitet, um eine wissenschaftlich fundierte wie auch allgemein akzeptierte Leitlinie zur Diagnose und Behandlung sogenannter bipolarer Erkrankungen zu schaffen.

Besonders im Frühstadium der Krankheit, in der die Betroffenen noch am besten behandelt werden können, fehlt einigen Therapeuten und Ärzten das Wissen für die richtige Diagnose. „Mit der S-3-Leitlinie stellen wir allen Beteiligten eine Entscheidungshilfe anhand krankheitsspezifischer Informationen und Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie zur Verfügung“, sagt Professor Michael Bauer, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Dresden anlässlich des 9. Europäischen Depressionstages (1. Oktober 2012).

Häufig werde eine bipolare Störungen erst spät diagnostiziert. Die depressiven Phasen der Erkrankung seien zwar gut erkennbar, der Umschwung in eine positive – im krankhaften Sinne manische – Stimmung dagegen nicht. Verantwortlich für die Koordination und einen großen Teil der wissenschaftlichen Arbeit war die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden. Das Besondere der neuen Leitlinie ist ihre Nähe zu aktuellen Erkenntnissen aus der alltäglichen Betreuung von Betroffenen.

Neben den Beschreibungen zu Diagnose- und Auswertungsverfahren sowie den Empfehlungen zur medikamentösen wie psychotherapeutischen Behandlung stehen unterschiedliche Elemente der Selbsthilfe für die Betroffenen im Mittelpunkt. Sie empfiehlt den flächendeckenden Aufbau von Selbsthilfegruppen ebenso wie die Selbstbeobachtung der Betroffenen durch einen elektronischen Stimmungskalender. Auch könnten neu aufzubauende Spezialambulanzen die Diagnostik und Therapie von besonders schwer betroffenen Patienten verbessern. Die neue Leitlinie ist online abrufbar unter www.leitlinie-bipolar.de.

Etwa drei Prozent der Bevölkerung von Bipolaren Störungen betroffen
Durch eine zu spät einsetzende Therapie verschlechtern sich die Chancen der Betroffenen, ein normales, geregeltes Leben zu führen. Der dadurch bedingte Abbruch der Ausbildung oder auch soziale Isolation können die Betroffenen in einen Abwärtsstrudel ziehen. „Bipolare Störungen sind schwerwiegende, häufig immer wieder auftauchende psychiatrische Erkrankungen, die etwa drei Prozent der Bevölkerung im Verlauf ihres Lebens treffen. Häufig manifestieren sie sich bereits bei Jugendlichen und oder bei jungen Erwachsen“, sagt Prof. Bauer. Übergeordnetes Ziel jeder Behandlung ist es, die psychosozialen Fähigkeiten des Patienten auf einem möglichst hohen Niveau zu halten. Wenn Betroffenen eine umfangreiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist – etwa durch eine Berufsausbildung, ein festes Arbeitsverhältnis und vielleicht eine eigene Familie – beeinflusst dies die gesundheitsbezogene Lebensqualität erheblich. Ohne eine qualifizierte, flächendeckende Versorgung der Patienten sind Berufsunfähigkeit und eine sehr intensive Betreuung die Folge. Daraus erwächst ein ernstes volkswirtschaftliches Problem.

Die neue S-3-Leitlinie soll den behandelnden Ärzten Hinweise geben, wie sich im Rahmen einer Akutbehandlung kurzfristig die Symptome von Depression oder Manie reduzieren lassen. Ein längerfristiges Ziel ist es, dem phasenweisen Auftritt der Erkrankung entgegenzuwirken oder ganz zu verhindern. „Mit dem wachsendem Wissensstand zur Behandlung Bipolarer Störungen und des damit verbundenen Erkennens der Komplexität der Erkrankung ist das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Phasenprophylaxe deutlich gewachsen. Sie muss bereits bei der Akutbehandlung berücksichtigt werden“, sagt Prof. Bauer. Dies schlägt sich nun in der neuen Leitlinie nieder. Sie enthält konkrete wie detaillierte Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung Erkrankter in akuten Phasen und im Rahmen der Phasenprophylaxe.

Ein weiterer Schwerpunkt der neuen Leitlinie sind die Selbsthilfegruppen: Sie haben bei Bipolaren Störungen einen besonderen Stellenwert, weil sie die vorhandene soziale Kompetenz und Sensibilität stärken. Der persönliche Austausch mit anderen Betroffenen wirkt der krankheitstypischen Kränkung des Selbstwertgefühls der Patienten ebenso entgegen wie der gestörten Zeitwahrnehmung. Die Selbsthilfegruppen können bei dem Einzelnen das Gefühl von der ‚Ewigkeit‘ der Depression oder der Manie relativieren und die damit einhergehende Verzweiflung lindern.

Um die Situation der manisch-depressiven Patienten perspektivisch zu verbessern, definiert die S-3-Leitlinie die Voraussetzungen für eine bestmögliche Versorgung. „Derzeit fehlt in Deutschland beispielsweise ein flächendeckendes Netz an Selbsthilfegruppen ebenso wie eine ausreichende Zahl an Spezialambulanzen“, sagt Prof. Bauer. Die am Dresdner Universitätsklinikum etablierte Ambulanz ist die einzige in Sachsen. So müssen die Patienten weite Wege in Kauf nehmen, um von einem Spezialisten-Team behandelt zu werden.

Betroffene und Angehörige unterstützten Projektarbeit ehrenamtlich
Initiiert durch die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS) wurde die S-3-Leitlinie in einem gemeinsamen Projekt mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie mit Unterstützung durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) entwickelt. Projektleitung und -koordi¬nation übernahm die Arbeitsgruppe um den Dresdner Klinikdirektor Prof. Michael Bauer. Um einen breiten Konsens herzustellen, beteiligten sich Vertreter von Patienten- und Angehörigenverbänden ebenso an dem Projekt, wie Organisationen, die Menschen mit Bipolaren Störungen professionell versorgen. Dies sind vor allem Beratungsstellen, Betreuungseinrichtungen, Ärzte und Therapeuten mit eigener Praxis, Spezialisten in den Krankenhäusern sowie Vertreter der entsprechenden Fachgesellschaften: „Alle Beteiligten haben über Jahre mit enormem Engagement ehrenamtlich dazu beigetragen, eine Leitlinie im Sinne dieses Trialog-Gedankens zu schaffen“, sagt Prof. Bauer.

Wichtiges Merkmal der S3-Leitlinie ist, dass dafür in einem ersten Schritt wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengetragen und kritisch bewertet wurden. Im Fall der S-3-Leitlinie zu den Bipolaren Störungen analysierte das Dresdner Team Dokumente der letzten 60 Jahre. Es folgte der formale, vorab strukturierte Konsensusprozess. Mit der Veröffentlichung der Leitlinie beginnt nun der Prozess der Verbreitung und Einführung in die Praxis.

Kontakt
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Direktor: Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer
Tel. 0351/ 4 58 27 60
E-Mail: michael.bauer@uniklinikum-dresden.de

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