Krebstherapie und das "Chemobrain" – Wenn Gedächtnislücken nur scheinbar groß sind

Mittlerweile wurden solche Beeinträchtigungen auch objektiv nachgewiesen: Sie sind eher mild und treten nur bei einem Teil der Patienten auf. Allerdings zeigte sich immer wieder, dass der subjektive Eindruck kognitiver Störungen nichts mit objektiv nachweisbaren Defiziten zu tun hat: Die Patienten, die über „Chemobrain“ klagen, schneiden in Gedächtnis- und Konzentrationstests weder besser noch schlechter ab als andere Patienten.

In einer groß angelegten Untersuchung mit über 100 Brustkrebspatientinnen wurde diese Diskrepanz jetzt unter die Lupe genommen. Ein Forscherteam um Dr. Kerstin Hermelink von der Frauenklinik der Universität München berücksichtigte viele Einflussfaktoren, die einen Zusammenhang zwischen subjektiv empfundenen und objektiv nachweisbaren kognitiven Störungen überdecken könnten.

Sie untersuchten auch, ob sich nachweisbare Veränderungen der geistigen Leistungsfähigkeit in subjektiven Einschätzungen widerspiegeln. Das Ergebnis blieb das gleiche: kein Zusammenhang. Patientinnen, die von Beeinträchtigungen ihrer geistigen Fähigkeiten berichteten, litten aber vermehrt unter Depressivität und neigten allgemein zu negativen Gefühlen. „Die subtilen kognitiven Einschränkungen, die sich durch Tests nachweisen lassen, werden offenbar von den Betroffenen im Allgemeinen überhaupt nicht bemerkt“, erklärt Studienleiterin Hermelink. Der subjektive Eindruck von „Chemobrain“ dagegen beruht meistens auf pessimistischen Selbsteinschätzungen, die vor allem bei depressiven Patientinnen häufig sind.“ (Psycho-Oncology online, 5. Februar 2010)

Immer mehr Menschen überleben eine Krebserkrankung – nach einer Zeit intensiver, oft sehr belastender Therapie werden sie wieder in ihren Alltag entlassen. Die Erwartungen der Betroffenen und ihrer Umgebung sind nun oft groß: Die Leistungsfähigkeit soll schnell wieder hergestellt sein, die Rollen in Beruf und Familie endlich wieder ausgefüllt werden. Das aber gelingt vielen Patienten auch dann nicht, wenn es ihnen körperlich längst wieder gut geht. Sie stellen fest, dass sie vergesslich und zerstreut sind, für alles länger brauchen als früher und schon bei kleinen Problemen aufgeben müssen, dass ihnen merkwürdige Verwechslungen, Irrtümer und Fehler aller Art passieren – ihre geistigen Fähigkeiten scheinen nicht mehr dieselben zu sein wie vor der Erkrankung. Die meisten Betroffenen machen dafür die Chemotherapie verantwortlich und sprechen von „Chemobrain“.

Wissenschaftler bestätigen den Eindruck der Patienten: Eher milde Einschränkungen geistiger Funktionen wie Gedächtnis, Konzentration und Denken lassen sich bei einem Teil der Krebspatienten tatsächlich nachweisen – allerdings finden sich subjektive empfundene und objektiv nachweisbare Störungen der geistigen Fähigkeiten nicht bei denselben Patienten. Diese merkwürdige Beobachtung wurde in sehr vielen Studien an Patienten mit unterschiedlichen Krebserkrankungen und Behandlungen immer wieder gemacht – und meistens „wegerklärt“: Die verwendeten Tests seien nicht genau genug und zu wenig alltagsnah, um die Beschwerden der Patienten auch erfassen zu können. Allerdings wurden mit den Tests ja tatsächlich Störungen geistiger Funktionen gefunden, nur eben bei den „falschen“ Patienten, nämlich überwiegend bei denjenigen, die gar nicht darüber klagten.

Ein Forscherteam um Dr. Kerstin Hermelink von der Frauenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und Professor Karin Münzel vom Lehrstuhl Neuropsychologe hat die Diskrepanz zwischen objektiven und subjektiven Störungen geistiger Funktionen jetzt eingehend untersucht. Die Wissenschaftlerinnen vermuteten, dass der Zusammenhang zwischen wahrgenommenen und nachweisbaren Einschränkungen geistiger Funktionen durch den Einfluss anderer Faktoren, sogenannter Confounder, verdeckt sein könnte. In ihrer Längschnittstudie COGITO – kurz für „Cognitive Impairment in Therapy of Breast Cancer“ – an der über 100 Brustkrebspatientinnen aus fünf bayerischen Kliniken und hämato-onkologischen Praxen mitwirkten, berücksichtigten sie den Einfluss von Depressivität und der Neigung zu negativen Gefühlen wie Schuld- und Schamgefühlen oder Ärger, sowie einer Reihe anderer Faktoren wie zum Beispiel der Intensität der Chemotherapie.

Trotzdem zeigte sich keinerlei Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Störungen geistiger Funktionen. Patientinnen, die von Beeinträchtigungen ihrer geistigen Leistungsfähigkeit berichteten, neigten schon vor Beginn der Krebstherapie eher zu negativen Gefühlen und waren depressiver als andere Patientinnen, aber ihre Testergebnisse unterschieden sich nicht von denen der Frauen, die keine Beeinträchtigungen bei sich festgestellt hatten. Auch die Intensität der Chemotherapie beeinflusste den subjektiven Eindruck kognitiver Beeinträchtigung, während sie für die Testergebnisse keine Rolle spielte. Veränderungen der Testergebnisse von Untersuchung zu Untersuchung spiegelten sich nicht in Veränderungen der subjektiven Einschätzung wieder.

Hermelink schließt daraus, dass Depressivität, die Neigung zu negativen Gefühlen und eine sehr toxische Chemotherapie mit vielen Nebenwirkungen zu pessimistischen Einschätzungen der eigenen geistigen Leistungsfähigkeit führen – ganz unabhängig davon, ob nachweisbare Störungen aufgetreten sind oder nicht. Die nachweisbaren Einschränkungen geistiger Funktionen dagegen sind mild und werden von den Betroffenen im Allgemeinen nicht bemerkt. „Diese Ergebnisse zeigen, dass die meisten Studien zum Thema Chemobrain gar nicht das nachgewiesen haben, worüber die Patienten klagen“, sagt Hermelink.

Auch wenn Beschwerden über einen Verlust geistiger Leistungsfähigkeit nach einer Chemotherapie meistens nicht auf nachweisbaren Schädigungen beruhen, sollten sie dennoch unbedingt ernst genommen werden, betont Hermelink. „Natürlich können subjektive und objektive Einschränkungen geistiger Funktionen bei individuellen Patienten gemeinsam auftreten, auch wenn kein genereller Zusammenhang besteht. Und subjektive Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten stellen für ohnehin schon sehr belastete Patienten eine weitere Belastung dar und sollten deshalb behandelt werden. Allerdings hilft es niemandem, das Problem zu simplifizieren und hinter Beschwerden von Krebspatienten über Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme grundsätzlich Schädigungen durch die Chemotherapie anzunehmen. Im Gegenteil – das kann Erwartungen und Ängste wecken, die den subjektiven Eindruck von Chemobrain eher noch fördern.“ (CA/suwe)

Publikation:
„Two different sides of 'chemobrain': determinants and nondeterminants of self-perceived cognitive dysfunction in a prospective, randomized, multicenter study“;
Kerstin Hermelink, Helmut Küchenhoff, Michael Untch, Ingo Bauerfeind, Michael Patrick Lux, Markus Bühner, Juliane Manitz, Veronika Fensterer, Karin Münzel;
Psycho-Oncology online, 5. Februar 2010,
DOI: 10.1002/pon.1695
Ansprechpartner:
Dr. Kerstin Hermelink
Klinikum der Universität München
Tel.: 089 / 7095 – 7579
E-Mail: kerstin.hermelink@med.uni-muenchen.de

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Luise Dirscherl idw

Weitere Informationen:

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