Wie geht Tansania mit AIDS um? DFG-Projekt zur Lebenssituation von HIV-Infizierten und ihren Familie

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist AIDS zu einer globalen Epidemie geworden, die bereits über 24 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Besonders betroffen ist das subsaharische Afrika, wo über 70% der weltweit 40 Millionen HIV-Infizierten leben. Bis zu 35% der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 49 Jahren sind hier mit HIV infiziert. Bislang haben Studien den soziokulturellen Kontext, in dem sich AIDS ausbreitet, vernachlässigt. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt untersucht erstmals, wie HIV-Infizierte und ihre Familien den Lebensalltag und die Erkrankung meistern. Dabei werden die Versorgungssituationen und die soziale Praxis in einer Land- und Stadtgemeinde in Tansania verglichen. Die Ergebnisse der Studie dienen dazu, Maßnahmen zu entwickeln, wie HIV-Neuinfektionen künftig besser verhindert werden können. Außerdem werden Vorschläge entwickelt, wie afrikanische Gesellschaften besser mit der steigenden Zahl von HIV-Infizierten und AIDS-Patienten umgehen können.

Am Institut für Ethnologie wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Ute Luig Vergleichsstudien in Dar es Salaam, der größten Stadt Tansanias, und in der ländlichen Mara-Region am östlichen Viktoriasee durchgeführt. Das ländliche Gebiet wird von den Luo bewohnt, die in Tansania – im Vergleich zum benachbarten Kenia – eine verhältnismäßig kleine ethnische Gruppierung bilden.

Durch AIDS verliert die traditionelle Großfamilie einen Teil ihrer integrierenden und stabilisierenden Funktion. Dies bekommen insbesondere die ökonomisch Schwächeren, und dabei vor allem junge Frauen, zu spüren. Bei den Luo sind Abstammung und Erbrecht über die väterliche Linie geregelt. Daher sind nach dem Tode eines Mannes traditionell dessen Brüder für die finanzielle und emotionale Versorgung der hinterlassenen Familie zuständig. Heute werden junge Frauen jedoch – wenn nicht ihre eigene, elterliche Familie die Versorgung übernimmt – häufig einem einsamen Tod überlassen. Sind die Infizierten hingegen wohlhabend, ist die Hilfsbereitschaft der Familie größer.

Die Familienmitglieder sprechen selten explizit über eine Erkrankung an AIDS, was künftige Infektionen begünstigt. Außerdem fürchten viele HIV-Infizierte, dass sich ihre Angehörigen nicht mehr um sie kümmern würden, wenn sie den Hintergrund der Erkrankung erführen. AIDS wird von den meisten Luo als Metapher für die Zerrüttung der Gesellschaft und als Symptom eines ’kranken’, modernen Lebens wahrgenommen. Damit wird mit einer HIV-Infektion zugleich ein „unmoralischer Lebenswandel“ assoziiert. In vielen Familien wird die Erkrankung deshalb tabuisiert. Auch innerhalb der Dorfgemeinschaft wird AIDS verschwiegen, um die Familie nicht mit der „Schande“ zu konfrontieren. In ländlichen Gegenden führen die Familien AIDS häufig auf einen Tabubruch in der Familie zurück (chira), der als Fluch zu einer Serie von Todesfällen führt. Eine Bedrohung durch chira kann nach der Vorstellung der Luo durch traditionelle Heilverfahren abgewendet werden.

Die Versorgung von AIDS-Kranken könnte vor allem durch die kontrollierte Bereitstellung von antiretroviralen Medikamenten verbessert werden, was bislang vor allem an globalen Wirtschaftsinteressen scheiterte. Jedoch hat auch die tansanische Regierung bisher kein überzeugendes Konzept vorgelegt, wie sie auf die gesellschaftliche Tabuisierung von AIDS und auf die zunehmend schlechte medizinische Versorgung von AIDS-Patienten reagieren wird. Vielmehr sichert sich die Regierung durch Einzelaktionen, wie eine Reihe von spektakulären Auftritten zum Welt-AIDS-Tag und verschiedenen Aufklärungskampagnen, das Wohlwollen internationaler Geldgeber. Auch werden HIV-Infizierte offiziell in staatlichen Krankenhäusern kostenlos versorgt. In der Praxis jedoch müssen HIV-Infizierte an das Krankenhauspersonal Bestechungsgelder zahlen, um in den Genuss einer medizinischen Versorgung zu kommen. Die staatliche, aber auch die familiäre Versorgungslücke werden teilweise von international finanzierten Nicht-Regierungs-Organisationen und von neuen religiösen Bewegungen aufgefangen, die sich vor allem in den urbanen Zentren Tansanias gebildet haben.

In Dar es Salaam gründete sich 1995 beispielsweise eine Organisation von HIV-Infizierten, „SHDEPHA+“, deren Mitglieder offen mit ihrer Krankheit umgehen. Außerdem gibt es in Dar es Salaam noch vier weitere von Nicht-Regierungs-Organisationen geleitete AIDS-Stellen. Sie bieten ihren Mitgliedern zum Teil kostenlose medizinische Behandlung, psychosoziale Beratung, den Besuch von Selbsthilfegruppen und rechtliche Unterstützung an. Außerdem vergeben sie Nahrungsmittel und kleinere Geldbeträge, damit die Familien das Schulgeld für ihre Kinder zahlen können. Doch bleiben diese Maßnahmen im landesweiten Maßstab ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Auch manche Kirchen haben sich der AIDS-Problematik angenommen. Exemplarisch für die Bedeutung religiöser Gemeinschaften ist die 1989 gegründete Full Gospel Bible Fellowship Church, die landesweit 120.000 Mitglieder hat und eine der am schnellsten wachsenden Kirchen Tansanias ist. Ihre Attraktion besteht in spirituellen Heilungen. Besonderes Aufsehen erregte die Kirche 1999, als sie spezielle Tage zur Heilung von AIDS-Kranken einrichtete, die wöchentlich rund 40 HIV-Infizierte anzogen. Trotz der Ambivalenz derartiger Heilungen hilft die Pfingstkirche vielen AIDS-Kranken durch praktische Maßnahmen. In den vielen kleinen home churches in Dar es Salaam werden bei schwerer Krankheit Hilfsdienste organisiert: z.B. Haushaltsarbeiten, Geldspenden für die medizinische Behandlung oder ein Begräbnis.

Das Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin strebt zusammen mit den Universitäten Gießen, Erlangen, Heidelberg und München einen interdisziplinären Forscherverbund an, der langfristig durch die DFG gefördert werden soll. Die zukünftige Kooperation zwischen Wissenschaftlern, im Verbund mit Organisationen wie der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), soll eine bessere Voraussetzung für die Gestaltung derjenigen AIDS-Programme schaffen, die bislang kaum Veränderung brachten. Im Mittelpunkt des Interesses wird dabei stehen, wie sich die Ausbreitung der Epidemie in Afrika aufhalten lässt und wie die Versorgung von Infizierten, Witwen und AIDS-Waisen verbessert werden kann. Erforscht werden außerdem Transformationen im Geschlechterverhältnis und in Konzeptionen von männlicher Sexualität. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe stellt sich jedoch auch die Frage, wie eine gesellschaftliche Kohärenz, die im subsaharischen Afrika durch das Sterben einer ganzen Generation nachhaltig bedroht ist, überhaupt noch gesichert werden kann.

Literatur:
– Hansjörg Dilger, „Leben mit AIDS in Tanzania. Ein Forschungsprojekt zur Lebenssituation von HIV-Infizierten und ihren Familien“, in: fundiert – Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, Bd. 01/2002, S. 66-73, ISSN 1616-5241
– afrika spectrum, Schwerpunktheft „AIDS in Africa. Broadening the Perspectives“, 36 (1) 2001, Hamburg: Institut für Afrikakunde (Gastherausgeber Hansjörg Dilger)

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Hansjörg Dilger, Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin, Drosselweg 1-3, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-53504, E-Mail: hansjoerg.dilger@berlin.de

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Ilka Seer idw

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