Reformoptionen der Gesetzlichen Krankenversicherung

Am 15. und 16. April 2002 fanden an der DHV Speyer die 4. Speyerer Gesundheitstage statt.

„Das reicht nicht aus“, war der einheitliche Tenor zur momentanen Gesundheitspolitik in Deutschland bei den 4. Speyerer Gesundheitstagen, die am Montag und Dienstag an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft BKK-IKK-LKK unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. Rainer Pitschas stattfand. Nach der Begrüßung durch Karl Josef Wirges, dem Vorsitzenden des Verwaltungsrates der IKK Rheinland-Pfalz, hielt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Regina Schmidt-Zadel das Eröffnungsreferat zu den Perspektiven einer bevorstehenden Gesundheitsreform in Deutschland. Sie betonte, dass im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik stehe, den Menschen vor den Gesundheitsrisiken zu schützen und dabei das Solidarprinzip das Markenzeichen sei. Die Aufsplittung des Leistungskataologs in Grund- und Wahlleistungen führe zu einer Zwei-Klassen-Medizin und sei mithin nicht wünschenswert. Daneben plädierte sie für eine Gesundheitsabgabe bei gesundheitsgefährdendem Verhalten (z.B. rauchen und Alkoholmissbrauch), die allerdings nicht als Steuer konstruiert, sondern in einen Extra-Topf eingezahlt werden sollte. Im Vordergrund der Gesundheitspolitik solle in Zukunft noch mehr die Prävention stehen, wobei sogar an ein neues Präventionsgesetz gedacht ist, welche die Vorschriften dann bündeln könne.

Daran anschließend referierte Prof. Dr. Peter Oberender, Direktor der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth, über die Notwendigkeit und Perspektiven einer umfassenden Gesundheitsreform in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht. Dabei stelle sich als größte Herausforderung vor allem die demographische Entwicklung dar, die gekoppelt mit dem medizinischen Fortschritt und dem steigenden Gesundheitsbewusstsein ein Kosteneinsparpolitik quasi unmöglich mache. Durch Europa werde außerdem der Slogan „Wettbewerbsrecht statt Sozialrecht“ ausgegeben, was auf längere Sicht die Grenzen der Finanzierbarkeit des Sozialstaates aufzeige. Um „race to the bottom“ zu vermeiden, bedürfe es daher dringend einer umfassenden Reform, welche aber gerade auch den Schutz ökonomisch schwacher Versicherter im System über ein Versichertengeld (ähnlich dem Wohngeld) vorsehen müsse. Regulierung müsse soweit gesellschaftlich und gesundheitspolitisch vertretbar abgeschafft werden, so dass es europaweit nicht zu einer Harmonisierung, sondern zu einem Wettbewerb der Systeme kommen könne.

In den direkt daran anschließenden Statements wurde deutlich, dass schon einiges politisch in die richtige Richtung gedacht wird, aber immer noch viel zu tun bleibt. Dr. Robert Paquet, Leiter des Berliner Büros des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen, betonte, dass es sich momentan immer noch um ein sehr korporatistisches System handele, bei dem durch den Risikostrukturausgleich eine Überkompensation schon jetzt zu erkennen sei und Vielfalt erdrosselt werde. Man benötige insgesamt einen einheitlichen Leistungskatalog, der mehr Vertragswettbewerb und größere Spielräume ermögliche. Die Definition eines Mindeststandards bringe allerdings viele Probleme mit sich und eine Selbstbeteiligung sei nur wirksam, wenn sie kräftig sei, was wiederum soziale Probleme mit sich bringe. Die Unterschiede in der Politik der großen Parteien seien eigentlich marginal und man erkenne immer mehr, dass es zu einer Entpolitisierung der Steuerung der Gesundheitssysteme kommen müsse. Rolf Stuppardt, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen, stellte in seinem Statement fest, dass die von Prof. Oberender aufgezeigte Entwicklung geradezu „Shuttlezug-mäßig“ gegenüber der extrem bürokratischen Langsamkeit Europas anmute. Wenn man sich in der Realität der Leistungserbringung befände, würden Modelle zwar Visionen entwerfen, aber man müsse eben auch Schritte in der Realität gehen. Dabei gehe es um einer Weiter- und nicht Neu-Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung, weswegen er auch eine rein wettbewerbliche Organisation für nicht zielführend halte. Seiner Ansicht nach wären die Wachstums- und Umsatzrenditen ungleich geringer, hätte man nicht über Jahrzehnte das aktuelle System mit starken Ordnungsprinzipien. Er forderte daher eher ein Beendigung der Politik der Verschiebebahnhöfe, welche immer wieder Umschichtungen aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherung vorsehe. Gleichzeitig bedürfe es mehr Qualität und Ergebnisorientierung sowie mehr Transparenz und Patientenorientierung im bestehenden System.

Als eine Art „Gegenpol“ stellte Dr. Ulrich Rumm, Vorstandsvorsitzender der Vereinten Krankenversicherung, ein Modell aus Sicht einer privaten Krankenversicherung vor, wobei er von Anfang an betonte, die gesetzliche Krankenversicherung keineswegs abschaffen zu wollen und auch keine Polarisierung der beiden Einrichtungen betreiben zu wollen. Seines Erachtens nach funktioniere aber soziale Marktwirtschaft nun einmal durch Wettbewerb, weswegen er vor allem ein wettbewerbsneutrales Verhalten sowie eine einseitige Benachteiligung der privaten Krankenversicherung durch die Politik fordere. Das von ihm propagierte Modell sehe ein Kapitaldeckungsverfahren sowie die Aufhebung der Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung vor, weil die demographische Entwicklung zu einer explosionsartigen Entwicklung der Beiträge führe. Die Rentenversicherungs-Reform stelle dafür ein Vorbild dar. Insgesamt handele es sich um ein langfristiges Modell und könne nicht heute oder morgen, sondern eher Schritt für Schritt umgesetzt werden. Der letzte Referent des ersten Tagungstages, Dr. Rainer Daubenbüschel als Präsident des Bundesversicherungsamtes, setzte sich konkret mit der Reform des Risikostrukturausgleichs unter Einführung von Disease-Management-Programmen (DMPs) in der deutschen Krankenversicherung auseinander. Das Ziel der Neueinführung sei die solidarische Verteilung zwischen den Versicherungen, wobei die konkreten Probleme jetzt in der Umsetzungsphase erkennbar würden. Dem Bundesversicherungsamt sei vom Gesetzgeber die Aufgabe der Prüfung der Anforderungen an die DMPs zugewiesen worden, ohne die Voraussetzungen eigentlich bisher überhaupt zu schaffen. Es fehlten immer noch die Durchführungsverordnungen und die Folge von negativen Prüffeststellungen seien auch noch nicht endgültig geklärt.

Der zweite Tag wurde eingeleitet durch ein Referat von Dr. Franz Terwey, dem Leiter des Büros der Deutschen Sozialversicherung bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Er rückte die europäische Entwicklung in den Blickpunkt und dort vor allem das seit zwei Jahren aktuelle Prinzip der offenen Koordinierung. Er betrachte Europa insgesamt als Chance, weil es für ihn die einzige Weltregion mit sozialem Antlitz darstelle. Allerdings müsse man wohl Einschnitte gerade im sozialen Sektor aus deutscher Sicht in Kauf nehmen. Das immer wieder im Vordergrund stehende EU-Wettbewerbsrecht werfe automatisch die Frage nach dem Unternehmensbegriff der Sozialversicherung auf. Die Offene Methode der Koordinierung wäre nun ein Weg, unter formaler Beachtung der Subsidiarität Überwachung, Bewertung und Prüfung von Zielerreichungen einzuführen, die zu einem politischen Rechtfertigungszwang der Mitgliedstaaten führe. Gleichzeitig existiere ein großes Demokratiedefizit dieser Methode, da das Parlament oder andere gewählte Gremien so gut wir nicht daran beteiligt würden. Die Überbetonung der finanzpolitischen Argumente tue der europäischen Sozialpolitik insgesamt nicht gut. Insofern stelle es eine Herausforderung für die nationalen Akteure dar, ihre Interessen in die europäische Diskussion mehr einzubringen.

Ein oppositionspolitisches Referat von der Hessischen Sozialministerin Silke Lautenschläger hinterfragte dann noch einmal gründlich die momentane Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Dabei stand der von den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen angestrengte Normenkontrollantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den neuen Risikostrukturausgleich ebenso in der Betrachtung wie eine insgesamte Neuausrichtung des Systems. Nach ihrer Auffassung stelle der Risikostrukturausgleich, wie er jetzt angestrebt sei, einen wettbewerbsfeindlichen Entzug der Einnahmen dar und fördere mithin nicht eine wirtschaftliche Denkweise und Effektivität innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Ziel könne es doch nur sein, die Krankenversorgung zu optimieren und dies erfolge wohl nicht durch die Einführung der jetzt angedachten Disease-Management-Programme. Die Skepsis demgegenüber resultiere vor allem aus ordnungspolitischer Sicht, weil durch die Festschreibungen die Anreizneutralität verletzt würde. Die Einschreibung möglichst vieler Kranker aus Sicht der Kassen stelle keinen Wettbewerb um bestmögliche Versorgung, sondern nur um das größte Finanzvolumen dar. Ziel könne es nur sein, den Kassen einen ausreichenden Gestaltungsspielraum für Innovation im Sinne der Patienten zu geben und der Wettbewerb sei ein sehr innovationsförderndes Gestaltungsmoment. Wichtig sei dabei vor allem, dass der Patient in den Mittelpunkt der Betrachtung rücke und dies könne z.B. auch über die aus der privaten Krankenversicherung bekannten Mechanismen des Bonus, der Beitragsrückerstattung oder ähnlicher Anreize geschehen. Ein Leistungsrecht mit mehr Entscheidungsfreiheit sei daher der richtige Weg, damit die Kassen auch ein eigenes Profil entwickeln könnten.

Daran unmittelbar anschließend rückte Univ.-Prof. Dr. Rainer Pitschas noch einmal die Frage „Wo bleibt der Patient in der Gesundheitsreform?“ in den Mittelpunkt der Betrachtung und forderte dabei den Übergang zu einem patientenorientiertem Gesundheitswesen, was vor allen Dingen aus Gründen der Akzeptanz für die Gestaltungsmöglichkeiten und Steuerung des Systems notwendig sei. Nur informierte Patienten könnten sich aktiv beteiligen, weswegen Transparenz und Beratung zentrale Punkte seien. Aber auch die stärkere Beteiligung von Bürger- und Patientenorganisationen an kollektiven Entscheidungsfindungen seien im Ansatz der richtige Weg. Die Unterscheidung der drei Ebenen Bürgerbeteiligung, Versichertenbeteiligung und Patientenbeteiligung sähen sich auch in einem europäischen System der nachhaltigen Einbindung als Verbraucherschutz dokumentiert. Das Selbstbestimmungsrecht der Versicherten sei mithin auszubauen und auch weiterhin durch Richtliniengebung innerhalb der EU überformt zu gestalten, stelle mithin eine Herausforderung für die Zukunft der deutschen Gesundheitspolitik dar.

Zum Abschluss der Tagung bedankte sich Raimund Nossek vom BKK-Landesverband Rheinland-Pfalz und Saarland bei den rund 80 Teilnehmern für angeregte Diskussionen und die Mithilfe beim guten Gelingen der 4. Speyerer Gesundheitstage.

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Dr. Klauspeter Strohm idw

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