Systeme außer Balance: Die Neurobiologie von Sucht und Abhängigkeit

Hirnforscher untersuchen seit einiger Zeit, was sich im Gehirn abspielt, wenn Menschen Entscheidungen treffen. Bedeutsam sind solche Untersuchungen auch für ein besseres Verständnis der Drogenabhängigkeit. Denn bei vielen Abhängigen sind diese Prozesse gestört. Wenn sie sich für eine Handlung entscheiden können, die mit einer sofortigen Belohnung verbunden ist, blenden sie die in der Zukunft liegenden negativen Folgen dieser Handlung aus. Der kurzfristige Kick wiegt mehr als der Verlust des Arbeitsplatzes oder Probleme in der Familie sowie andere negative Folgen des Drogenmissbrauchs. „Die Fähigkeit, zukünftige Folgen einer Handlung angemessen bei einer Entscheidung zu berücksichtigen, ist bei Drogenabhängigen zu schwach ausgebildet,“ erklärt der amerikanische Suchtforscher Professor Antoine Bechara, der an der Universität von Südkalifornien in Los Angeles und an der Universität von Iowa in Iowa City forscht.

Die Hypothese, die Bechara auf dem Kongress der Hirnforscher in Wien präsentiert, lautet: Sucht ist ein Zustand, in dem ein Mensch wenn es um den Gebrauch einer Droge geht, blind wird für die langfristigen Folgen seiner Entscheidung. Eine gestörte Balance zwischen zwei neuronalen Systemen sei dafür die Ursache. Bei diesen zwei Systemen handelt es sich zum einen um das „impulsive System“, das vom Mandelkern (Amygdala) gesteuert wird, der bei der Verarbeitung von Emotionen eine Rolle spielt. Dieses System vermittelt die unmittelbare Erfahrung von Schmerz oder Belohnung bei einer Handlung. Bei dem anderen System handelt es sich um ein reflektives System, gesteuert vom Vorderhirn, das die positiven oder negativen Folgen einer Handlung in der Zukunft antizipiert. Normalerweise behält dieses reflektive System die Oberhand. Gleichwohl ist diese Kontrolle nicht absolut: Eine Überaktivität im impulsiven System kann das reflektive System überrennen. Drogen könnten dabei eine Rolle spielen, indem sie die Selbstregulationsfähigkeit dieser Balance stören.

Ähnliche Entscheidungsdefizite wie Drogenabhängige haben auch Patienten, bei denen ein bestimmter Teil des Vorderhirns, der so genannte ventromediale prefrontale Cortex (VMPC), geschädigt wurde. Die Patienten erholen sich zwar wieder, Intelligenz, Gedächtnis, Sprache und Bewegungsfähigkeit sind unbeeinträchtigt, aber ihr Verhalten ändert sich. Sie können ihren Tag nicht mehr effektiv planen und haben Probleme, sich richtig zu entscheiden. Ihre Entscheidungen haben für sie langfristig daher oft nachteilige Folgen. Außerdem verlieren die Betroffenen die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen.

Untersuchen können Experten diese Beeinträchtigungen bei Entscheidungsprozessen seit einiger Zeit mit einem speziellen Test, dem „Iowa-Gambling-Task“. Die Testpersonen müssen sich dabei entscheiden, Karten aus vier Kartenstapeln (engl. „Deck“) zu nehmen, die jeweils mit einem unterschiedlich hohen Gewinn verknüpft sind. Nach jeder Entscheidung erfahren die Spieler, wie viel sie gewonnen oder verloren haben. Gesunde Menschen lernen dabei sehr schnell jene Kartenstapel zu meiden, die mit kurzfristigen Gewinnen, aber größeren Verlusten in der Zukunft verbunden sind. Anders die Patienten mit einer Störung ihrer Entscheidungsfähigkeit: Ihnen gelingt es zumeist nicht, die für sie vorteilhafte Entscheidung zu treffen.

Wenn Drogenabhängigen diesen Test machen, sind die Ergebnisse zumeist ähnlich. Dies könnte unter anderem daran liegen, vermuten Bechara und seine Kollegen, dass VMPC-Patienten und Drogenabhängige jenen Zustand verstärkter emotionaler Anspannung nicht empfinden, der bei gesunden Menschen eine riskante Entscheidung begleitet. Diese „somatischen Marker“ bilden sich durch frühere Erfahrungen mit Belohnung und Bestrafung heraus. Sie müssen nicht unbedingt bewusst wahrgenommen werden, sondern können ihre Wirkung auch im Unterbewusstsein entfalten. Allerdings gibt es auch Drogenabhängige, deren Verhaltensprofil im Test nur teilweise mit dem der VMPC-Patienten übereinstimmt.

„Drogenabhängige, deren Profil mit dem von VMPC-Patienten übereinstimmt, dürften es schwerer haben, von ihrer Sucht loszukommen, als jene, deren Profil nur teilweise mit dem der Patienten übereinstimmt“, vermutet Pechara.

Darüber hinaus belegen die Untersuchungen der Forscher, dass nicht bei allen Drogenabhängigen die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Und es gibt auch gesunde Menschen, die im Text Verhaltensprofile zeigen, die denen von VMPC-Patienten ähneln. Diese könnten, vermuten Bechara und seine Kollegen, besonders anfällig für Drogenmissbrauch sein.

Vor allem betonen die Wissenschaftler, dass das Vorderhirn, der Sitz des reflektiven neuronalen Systems, erst im Laufe des Erwachsenwerdens bis zum 21. Lebensjahr ausreift. Darum könnte ein früher Drogenkonsum das Risiko für Defizite bei der Impulskontrolle erhöhen. Allerdings kann Drogenkonsum alleine solche Defizite nicht auslösen, möglicherweise aber verstärken. „Unsere Hypothese lautet“, so die Forscher, „dass Schwächen der Entscheidungsfindung bei Drogenabhängigen nicht das Produkt des Drogenkonsums sind, sondern dass diese Defizite den Weg zur Abhängigkeit bahnen.“

ABSTRAKT Nr. S29.3
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Das Forum 2006 der Federation of European Neuroscience Societies (FENS) wird veranstaltet von der Österreichischen Gesellschaft für Neurowissenschaften und der Deutschen Neurowissenschaftlichen Gesellschaft. An der Tagung nehmen über 5000 Neurowissenschaftler teil. Die FENS wurde 1998 gegründet mit dem Ziel, Forschung und Ausbildung in den Neurowissenschaften zu fördern sowie die Neurowissenschaften gegenüber der Europäischen Kommission und anderen Drittmittelgebern zu vertreten. FENS ist der Europäische Partner der Amerikanischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (American Society for Neuroscience). Die FENS vertritt eine große Zahl europäischer neurowissenschaftlicher Gesellschaften und hat rund 16 000 Mitglieder.
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8. – 12. Juli 2006
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