Mathematik und Neurochirurgie Hand in Hand

Wissenschaftler des DFG-Forschungszentrum Matheon und der Berliner Charitè haben gemeinsam eine weltweit neuartige Operationsmethode entwickelt, die eine sanfte Korrektur von Schädelverformungen bei Säuglingen möglich macht.


Hans Lamecker erinnert sich noch gut daran, als ihn Dr. Hannes Haberl vom Universi-tätsklinikum Charitè anrief und anfragte, ob er ihm helfen könne, einige grundlegende Probleme bei der Operationsplanung von Schädelknochenverformungen bei Säuglingen zu lösen. „Ich war schnell angetan von dem Thema und sah auch eine realistische Chance, Dr. Haberl zu helfen“, sagt der Physiker, der gemeinsam mit Stefan Zachow, Hans-Christian Hege und Peter Deuflhard diese Arbeiten unter dem Namen CranioSynos als Mitarbeiter eines Projektes des DFG-Forschungszentrum MATHEON in Berlin betreibt. Nun, nach nur 12 Monaten, hat Lameckers Modell den Praxistest erfolgreich bestanden und die weltweit erste Operation mit der für die Kleinkinder äußerst schonenden und planbaren Methode ist gelungen.

Schädelverformungen bei Säuglingen (Craniosynostosen), deren Ursache im zu frühen Zusammenwachsen der zu Beginn offenen Schädelnähte liegt, kommen relativ häufig vor. Neueste Studien aus Frankreich belegen, dass diese Unregelmäßigkeiten die weitere Entwicklung der Babys entscheidend behindern können. Nicht zu unterschätzen sind aber auch ästhetische Probleme, die auf die Patienten zukommen.

„Eine Operation solcher Verformungen ist daher zwar nicht in jedem Fall dringend geboten, häufig aber sowohl unter medizinischen als auch ästhetischen Gesichtspunkten mehr als sinnvoll“, sagt PD Dr. Hannes Haberl, Leiter der größten Spezialabteilung für Kinderneurochirurgie in Deutschland an der Berliner Charitè. Er wollte die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts praktizierte Operationstechnik der Schädelumformung verfeinern, für die Kinder weniger belastbar und im Ergebnis optimal gestaltbar machen. Dabei ist er auf die Unterstützung durch Visualisierung angewiesen. In Hans Lamecker und den Mitarbeitern in dem MATHEON-Projekt fand er die richtigen Partner.

Für die Korrektur der verformten Knochen wird die Schädeldecke der Patienten ent-nommen, die Knochenfragmente werden dann verschoben, in die gewünschte Form gebracht und schließlich wieder angeschraubt. Dabei sind die Details der Umformung derzeit ganz dem individuellen Empfinden des jeweiligen Chirurgen überlassen. „Dies verhindert eine objektive Bewertung des therapeutischen Erfolgs und erschwert die Ausbildung unerfahrener Chirurgen“, betont Dr. Haberl.

Grundlage der von Haberl und Lamecker entwickelten neuen Operationsmethode ist die statistische Auswertung einer Vielzahl von MRT-Aufnahmen gesunder Kinderschädel. „Hierfür“, und darauf legt Dr. Haberl großen Wert, „wurde keinesfalls gesunde Säuglinge untersucht, sondern lediglich Bilder von Kindern verwendet, bei denen wegen anderer Diagnosen eine Kernspintomografie notwendig war.“ Aus diesen Aufnahmen erstellte Hans Lamecker eine Datenbank und errechnete mit ihrer Hilfe charakteristische „Schädel-Muster“.

„Für mich war es ein Vorteil, dass wir am Matheon und am Konrad-Zuse-Zentrum bereits die Grundlagen geschaffen hatten, aus den Bildern, die die Kernspintomografie liefert, akkurate Daten heraus zu filtern und zu analysieren“, sagt Hans Lamecker.

Auf dieser Basis entwickelte er ein statistisches 3D-Formmodell des Schädelknochens. Die Herausforderung aus mathematischer Sicht bestand vor allem darin, übereinstimmende Punkte auf den Schädeloberflächen unterschiedlicher Patienten anhand nur weniger anatomischer Vorgaben, wie zum Beispiel den Eingängen zum Gehörkanal oder dem Nasensattelpunkt, zu identifizieren. „Für die Untersuchung solch komplexer Aufgabenstellungen ist das MATHEON mit seinem engen Netzwerk von Experten aus unterschiedlichen Gebieten der Mathematik, wie zum Beispiel der Geometrie oder Numerik, der Schlüssel zum Erfolg“, erklärt Prof. Deuflhard, einer der Begründer des MATHEON.

Hannes Haberl kann nun ein Muster auswählen, das dem Kopf des Patienten am nächsten kommt. Von diesem Muster wird ein Modell erstellt, das Haberl mit in dem Operationssaal nimmt. Auf dem Modell werden dann während des Eingriffs die Knochen geformt und angepasst. Die Verbesserungen beschreibt Dr. Haberl so: „Durch die Anpassung am Modell entfallen Arbeiten direkt am Patienten, die Operationszeit kann sich bis um die Hälfte verringern, durch die kürzere Zeit der Betäubung werden die Kinder viel geringer belastet, der Blutverlust reduziert sich und der Heilungsprozess wird beschleunigt. Schließlich erreichen wir durch die Feinanpassung der modellgestützten Umformung an die jeweilige Schädelbasis eine nach wie vor individuelle, aber dem Kind besser entsprechende und damit schönere Schädelform“.

Neben den mathematischen und den medizinischen Anforderungen hatten die beiden Wissenschaftler aber auch noch ein gesellschaftsrelevantes Problem zu berücksichtigen. Seit dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten ist die ästhetische Komponente von Schädelvermessungen mit einem Tabu belegt, obwohl ihre Tradition bis in die Antike zurück reicht und sich beispielsweise Goethe oder Philosophen wie Kant und Hegel mit diesem Thema befasst haben. „Bedingt durch dieses Tabu waren, wie schon erwähnt, bisher die ästhetischen Ergebnisse dem Empfinden des jeweiligen Chirurgen überlassen. Ich aber möchte objektive Kriterien anwenden, um schon vor der Operation abzuschätzen, wie die Kinder nach der Operation aussehen“, sagt Hannes Haberl. Tendenzen einer Normung der Schädelform werden durch die notwendige Anpassung an die individuelle Schädelbasis verhindert. So unterstützt das Modell ein optimiertes, aber individuelles Ergebnis. Die gemeinsam gefundene Lösung, so hoffen Hans Lamecker und Hannes Haberl, braucht hier also keinen Vorwurf zu fürchten.

Beim ersten auf der Basis des Modells von Hans Lamecker operierten Säugling jedenfalls haben sich die medizinischen Hoffnungen von Hannes Haberl bestätigt. „Das behandelte Kind hat die Operation ohne Schwierigkeiten überstanden und konnte nach einer Woche die Klinik verlassen. Mit dem erzielten Ergebnis bin nicht nur ich als Arzt sehr zufrieden, sondern vor allem auch die Eltern“ erzählt der Chirurg. Und auch Hans Lamecker ist um viele Erfahrungen reicher. „Ich glaube, dass wir mit unserer Methode der Visualisierung noch viele Probleme in der Medizin lösen können“, sagt er. Aber auch die Erfahrung, das erste Mal bei einer Operation dabei gewesen zu sein, bleibt in seiner Erinnerung.

Das DFG-Forschungszentrum MATHEON ist ein Zusammenschluss der Mathematikinstitute der drei Berliner Universitäten, dem Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB) und dem Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS). Im MATHEON wird die Entwicklung der Mathematik als Zugang zu den Schlüsseltechnologien und die Zusammenarbeit zwischen Mathematik und Industrie, Gesellschaft und Technologieentwicklung forciert.

Weitere Informationen:

Dipl-Phys. Hans Lamecker, MATHEON (Konrad-Zuse-Zentrum) Tel.: 030 84185-177
Email: lamecker@zib.de

Dr. Hannes Haberl, Universitätsklinikum Charitè, Tel.: 030.450560091,
Email: hannes.haberl@charite.de

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Rudolf Kellermann idw

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