Auf den Spuren des Geldes: Durchbruch für mathematische Vorhersage von Epidemien

Die Bewegung von Geldnoten in den USA. Jede Linie symbolisiert die geographische Reise einer einzelnen Geldnote zwischen Anfangsort (Seattle: blau, New York: gelb) und verschiedenen Zielorten. Jede Geldnote war weniger als eine Woche unterwegs. Bild: Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Göttinger Max-Planck-Forscher decken universelle Gesetzmäßigkeiten im Reiseverhalten auf


Die wachsende Mobilität der Menschen ist die zentrale Ursache für die geographische Ausbreitung moderner Seuchen. Bakterien und Viren können über große Strecken transportiert und an andere Personen weitergegeben werden. Um die Ausbreitung von Epidemien vorherzusagen, muss man daher die statistischen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Reiseverhaltens kennen, was angesichts einer drohenden Grippepandemie von großer Bedeutung ist. Jedoch erweisen sich quantitative Untersuchungen als extrem schwierig, da sich Menschen über kleine und große Strecken mit Hilfe verschiedenster Verkehrsmittel (Auto, Bahn, Flugzeug, etc.) bewegen. Mit einem verblüffenden Trick ist es jetzt Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, der Universität Göttingen und der University of California Santa Barbara gelungen, dieses Reiseverhalten zu bestimmen. Sie hatten die Idee, umfangreiche Daten einer amerikanischen Internetseite auszuwerten, auf der Benutzer zum Spaß den momentan Ort eines Geldscheins registrieren und seinen weiteren Weg verfolgen können. Diese Geldnoten werden ähnlich wie Krankheitserreger durch Menschen von Ort zu Ort transportiert. Hierbei stellte sich überraschenderweise heraus, dass die Reisebewegungen so genannten universellen Skalierungsgesetzen folgen. Die Wissenschaftler haben eine mathematische Theorie entwickelt, die erstaunlich genau Reisebewegungen auf Entfernungen von einigen wenigen bis einigen tausend Kilometern beschreibt und einen signifikanten Durchbruch für die mathematische Modellierung der Seuchenausbreitung bedeutet (Nature, 26. Januar 2006).

Die weltweite Ausbreitung von Seuchen, so genannten Pandemien mit verheerenden gesundheitlichen und ökonomischen Konsequenzen, ist in der globalisierten Welt mit intensivem internationalen Handel, wachsender Mobilität und hoher Verkehrsintensität zu einer sehr ernsten Bedrohung geworden. Die Vogelgrippe (aviäre Influenza A), die Entstehung eines neuartigen menschlichen Grippe-„Supervirus“ und einer potenziellen weltweiten Grippepandemie haben in den letzten Wochen und Monaten nicht grundlos für Schlagzeilen gesorgt.

Ursache für die geographische Ausbreitung zahlreicher infektiöser Krankheiten ist die Bewegung infizierter Individuen von Ort zu Ort. Historische Pandemien, wie die Pest im 14. Jahrhundert, haben sich nur langsam als Wellenfront über weite geographische Gebiete ausgebreitet, da die Menschen im Mittelalter typischerweise nur einige Kilometer pro Tag reisen konnten und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Seuchen begrenzten. Die Pest brauchte damals etwa drei Jahre, um den europäischen Kontinent von Süden nach Norden mit einer mittleren Ausbreitungsgeschwindigkeit von ca. 2 km/Tag zu durchqueren.

Heute jedoch legen Menschen in kurzen Zeiträumen auch große Entfernungen zurück. Man erwartet deshalb, dass sich kommende Pandemien nach anderen Gesetzen und sehr viel schneller ausbreiten, wie bereits das Beispiel der rapiden weltweiten Ausbreitung von SARS (severe acute respiratory syndrome) gezeigt hat.

Um die Ausbreitung moderner Seuchen in mathematischen Modellen zu beschreiben und Vorhersagekonzepte zu entwickeln, ist als zentraler Baustein eine genaue quantitative Kenntnis des Reiseverhaltens auf allen Entfernungsskalen erforderlich. Leider ist es bisher nicht gelungen, die charakteristischen Eigenschaften dieser Bewegungsströme zu quantifizieren. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da heutzutage Menschen die verschiedensten Verkehrsmittel verwenden können. Kurze bis mittlere Entfernungen werden mit Fahrrad, Auto und Bahn zurückgelegt, lange Reisen typischerweise per Flugzeug unternommen. Um umfassende Bewegungsdaten zu erheben, müssten all diese Verkehrsströme landesweit und international über längere Zeiträume gemessen und zusammengefasst werden. Das erscheint kaum möglich.

D. Brockmann, L. Hufnagel und T. Geisel, theoretische Physiker des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation, der Universität Göttingen und der University of California Santa Barbara, haben nun diese Schwierigkeiten umgangen und die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Reiseverhaltens mit hoher Präzision ermittelt.

Statt der Bewegung einzelner Menschen untersuchten die Forscher die geographische Zirkulation von Geldscheinen, die durch reisende Menschen von Ort zu Ort transportiert werden. Dazu analysierten die Physiker Daten eines amerikanischen Bill-Tracking Internetspiels. Die Idee dieses Spiels ist denkbar einfach: Eine große Anzahl von Geldnoten wird markiert und in Umlauf gebracht. Bekommt man eine markierte Geldnote, so kann man sich online registrieren, in einem Bericht seinen momentanen Aufenthaltsort angeben und die Dollarnote wieder in Umlauf bringen. Diese Internetseite ist mittlerweile so populär, dass schon ca. 50 Millionen individuelle Geldscheine registriert sind.

„Wir haben erkannt“, so Dirk Brockmann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, „dass wir durch die enorme Datenfülle und die hohe geographische und zeitliche Auflösung des Bill-Trackings genaue Rückschlüsse auf die statistischen Eigenschaften des Reiseverhaltens ziehen können, und zwar unabhängig von den benutzten Verkehrsmitteln. Wir hofften auf diesem Weg indirekt und mit hoher Präzision die typischen Eigenschaften des Reiseverhaltens zu ermitteln“.

Diese Hoffnung hat sich mehr als bestätigt. Die Wissenschaftler entdeckten in den Bewegungsdaten universelle Skalierungsgesetze, die dem menschlichen Reiseverhalten zugrunde liegen. Ähnliche Skalierungsgesetze kennt man aus anderen physikalischen und biologischen Systemen, wie turbulenten Strömungen und chaotischen Systemen. „Das Besondere an diesen Skalierungsgesetzen ist die Tatsache, dass sie durch nur zwei universelle Parameter festgelegt sind. Dieses Ergebnis hat uns alle überrascht.“, erklärt Lars Hufnagel von der University of California, Santa Barbara.

Bis heute basieren zahlreiche Modelle zur geographischen Ausbreitung von Seuchen auf der Annahme, dass sich Krankheitserreger geographisch diffusiv ausbreiten, ähnlich feinster Staubpartikel auf einer Wasseroberfläche. Diese Standardmodelle konnten zwar sehr erfolgreich die wellenförmige Ausbreitung historischer Pandemien beschreiben. Die Untersuchungen der Göttinger Wissenschaftler belegen nun eindeutig, dass diese Standardmodelle für die Ausbreitung moderner Seuchen nicht mehr anwendbar sind. „Die Konsequenz unserer Untersuchungen ist, dass zur Beschreibung der geographischen Ausbreitung moderner Seuchen neuartige theoretische Konzepte entwickelt werden müssen“, folgert Dirk Brockmann.

Auf der Basis dieser Analyse konnten die Physiker eine mathematische Theorie des menschlichen Reiseverhaltens aufstellen, deren Vorhersagen mit den gemessen Skalierungsgesetzen in einem Entfernungsbereich von einigen Kilometern bis einigen tausend Kilometern genau übereinstimmt. Da für viele Krankheitserreger die Mechanismen der Ansteckung von Mensch zu Mensch bereits gut verstanden sind, können nun mit Hilfe der neuen Theorie erstmals konkrete Modelle untersucht werden, mit denen die globale Seuchenausbreitung realistisch berechnet und beschrieben werden kann. „Wir sind optimistisch, dass dies die Vorhersage der geographischen Ausbreitung von Epidemien entscheidend verbessern wird“, sagt Professor Theo Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.

Originalveröffentlichung:

D. Brockmann, L. Hufnagel and T. Geisel
The scaling laws of human travel
Nature, 26 January 2006

Media Contact

Dr. Andreas Trepte Max-Planck-Gesellschaft

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de

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