Hüftgelenksfrakturen: Risikopatienten unerkannt und unterversorgt

Bereits seit Jahren warnt die Europäische Kommission vor einem exponentiellen Ansteigen von Hüftgelenksfrakturen aufgrund der demografischen Entwicklung. Derzeit rechnet man in Deutschland mit Folgekosten von jährlich 2,5 bis 3 Milliarden Euro – was bislang gesundheitsökonomisch kaum Beachtung fand. Alarmierend sind nun die Ergebnisse der umfassendsten deutschen Studie zur Versorgungssituation nach Hüftgelenksfrakturen an 16.500 Patienten: Das präventive Potenzial bleibt ungenutzt, dem Verdacht auf Osteoporose gehen Mediziner meist nicht nach, Medikamente sowie Strategien der Mobilitätsverbesserung werden kaum eingesetzt. Dabei ließe sich damit schon das Frakturrisiko um die Hälfte senken. Möglich wurden diese Ergebnisse vor allem durch das erste wissenschaftliche Callcenter IBEKOM, gegründet an der Ruhr-Universität.

Vorurteil widerlegt: Es trifft meist „fitte Menschen“

Die Studie umfasst rund 16 500 Patienten aus 440 Krankenhäusern und Rehakliniken in Deutschland. Alle Daten aus den Kliniken stammen von den behandelnden Ärzten selbst, während speziell geschulte studentische Interviewer des IBEKOM die Langzeitbefragung von rund 5 500 Patienten übernahmen. Bereits die ersten Ergebnisse überraschen: Die Mehrzahl der Patienten mit Oberschenkelhalsbrüchen erwies sich entgegen der vorherrschenden Meinung als vor dem Knochenbruch noch sehr mobil: rund 54 Prozent der im Krankenhaus behandelten und 69 Prozent der in Rehakliniken versorgten Patienten konnten vor dem Schenkelhalsbruch ohne Hilfsmittel gehen. Bei über 90 Prozent der Patienten traten vor, während und nach der Operation keine Komplikationen auf.

Osteoporose: Dem Verdacht folgt keine Diagnose

Die Daten aus den Kliniken zeigen bei vielen Patienten Risikofaktoren für eine Osteoporose: so hatten etwa 26 Prozent bereits vor der akuten Fraktur andere Brüche erlitten, bei 19 Prozent war eine deutliche Abnahme der Körpergröße zu verzeichnen (durchschnittlich 4,3 cm). Bei über der Hälfte der Patienten äußerten die behandelnden Ärzte auch einen Verdacht auf Osteoporose, doch bei der Mehrzahl dieser Patienten wurde der Verdachtsdiagnose nicht weiter nachgegangen. Bei mehr als 80 Prozent der Betroffenen wurde weder das routinemäßige Röntgenbild des Brustkorbs auf eventuelle Wirbelkörperbrüche hin untersucht, noch bei 97 Prozent der Risikopatienten eine Knochendichtemessung durchgeführt.

Ohne Diagnose keine Behandlung

Obwohl eine erfolgversprechende Therapie möglich wäre, erhielten nur rund 14 Prozent aller Patienten eine adäquate Osteoporosebehandlung bei Entlassung aus der Klinik. Sieben Monate nach der Operation war die medikamentöse Therapie wieder auf den Zustand vor dem Knochenbruch abgesunken. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den Patienten der Rehaeinrichtungen, auch wenn hier das Niveau insgesamt etwas höher war. Deutlich besser versorgt wurde lediglich jene Patientengruppe, bei der eine Knochendiagnostik durchgeführt worden war. Sie erhielt während des stationären Aufenthalts und auch nach der Entlassung eine angemessene medikamentöse Therapie.

Unerkannt und unterversorgt – und was nun?

Die Diagnostik von Osteoporose (nach Leitlinie des Dachverbandes der deutschsprachigen osteologischen Fachgesellschaft, DVO) muss zukünftig Bestandteil der Routineuntersuchung werden. Im Rahmen der Versorgungsforschung wird nun die gesamte Versorgungskette näher unter die Lupe genommen, um zu sehen, wie die Bereiche Akutkrankenhaus, Rehabilitation und ambulante Versorgung ineinander greifen und wie effektiv die wohnortnahe (ambulante) Rehabilitation aber auch präventive Maßnahmen der Frakturvermeidung sind.

IBEKOM: „Das andere Callcenter“

Im IBEKOM arbeiten speziell geschulte studentische Interviewer, die Patienten zu vereinbarten Zeiten zu Hause, bei der Arbeit oder mobil anrufen, um sie etwa nach der Wirksamkeit einer bestimmten Therapie oder dem Verlauf einer bestimmten Erkrankung zu befragen. Der persönliche Kontakt hat im Gegensatz zur schriftlichen Befragung per Fragebogen viele Vorteile: Nachfragen können sofort beantwortet, schwierige Fragen erläutert werden. Die Antworten sind im persönlichen Gespräch ehrlicher und die „Aussteigerquote“ geringer: Die Telefon-Interviewer erreichen über 90 Prozent der in eine Studie eingeschlossenen Patienten, während bei schriftlichen Befragungen durchschnittlich 30 Prozent der Teilnehmer vorzeitig aussteigen. Zudem sind die Studienergebnisse zuverlässiger. Auch die Kosten halten sich in Grenzen; sie liegen wesentlich niedriger als bei Hausbesuchen oder Einbestellung der Patienten zur persönlichen Befragung in Klinik oder Praxis.

Themen in RUBIN 1/05

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Weitere Informationen

Prof. Dr. Ludger Pientka, Universitätsklinik für Altersmedizin und Frührehabilitation, Marienhospital Herne, Tel.: 02323/499-2400/2401, E-Mail: ludger.pientka@ruhr-uni-bochum.de

Prof. Dr. Hans-Joachim Trampisch, Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Tel.: 0234/32-27790, E-Mail: hans.j.trampisch@ruhr-uni-bochum.de
Michael Kemmerich (IBEKOM), Tel.: 0234/43870-400, E-Mail: info@ibekom.de

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Dr. Josef König idw

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