Welche Pflanzen dürfen wir laut EU-Gesetz essen?

Botaniker analysieren im Vorfeld der Novellierung der „Novel Food Verordnung“ Gesetzestexte und finden Widersprüche

Die EU-Gesetzgebung regelt unter anderem, welche Lebensmittel in der EU auf den Markt dürfen, welche genehmigungspflichtig sind und aus welchen pflanzlichen Rohstoffen Lebensmittelfarbstoffe gewonnen werden dürfen. Ein oberflächlicher Blick auf eine der Verordnungen lässt erheblichen Zweifel am Sinn der Definition aufkommen: Zu ungenau und teilweise sogar widersprüchlich sind die Bezeichnungen, die das Gesetz vorgibt. Zu diesem Schluss sind Botaniker der Freien Universität Berlin (FU) in Zusammenarbeit mit der botanischen Industrieberatung botconsult GmbH gekommen, die die Verordnungen unter die Lupe genommen haben. Auf der Grünen Woche in Berlin präsentieren die Wissenschaftler vom 21. bis zum 30. Januar 2005 ihre Ergebnisse.

1997 verabschiedete die Europäische Union die so genannte „Novel Food Verordnung“ (EG 259/97), in der festgelegt wurde, welche Produkte in der EU als Lebensmittel ohne vorherige Prüfung verkauft werden dürfen und welche „neuen Lebensmittel“ erst einen Genehmigungsprozess durchlaufen müssen. Was vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der EU von Menschen verzehrt wurde, darf demnach ohne Prüfung vermarktet werden. Alle anderen Lebensmittel müssen als „neuartiges Lebensmittel“ zugelassen werden.

Inwiefern stellt die Verordnung tatsächlich eine Verbesserung des Verbraucherschutzes dar? Schränkt sie nicht die Wahlfreiheit des Verbrauchers in sinnloser Weise ein? Behindert sie vielleicht unnötig den freien Warenverkehr mit Drittländern? Schafft sie klare Rechtsgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten für Industrie und Landwirtschaft?

Der Verordnungstext gibt weder Umfang oder Form noch Zeitraum für gültige Nachweise des „nennenswerten Verzehrs“ an und schafft damit erhebliche Rechtsunsicherheit für die Industrie. Zudem schränkt er aus Sicht der Wissenschaftler grundlos den freien Warenverkehr mit außereuropäischen Staaten, die Entwicklungsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sowie die Wahlfreiheit des Verbrauchers ein. Uralte Kulturpflanzen, die nicht über den Großhandel vertrieben werden – wie zum Beispiel die Kerbelrübe, Wegerich oder zahlreiche Kohlsorten – werden genehmigungspflichtig, da hier der Nachweis des „nennenswerten Verzehrs“ nicht über den Handel erbracht werden kann. So auch sämtliche Obst- und Gemüsesorten, die bisher in der EU nicht vertrieben worden sind, selbst wenn sie in ihren Herkunftsländern als Grundnahrungsmittel gelten.

„Die Festlegung, was ’selbstverständlich’ ein Lebensmittel ist und was genehmigt werden muss, unterliegt keiner nachvollziehbaren Logik“, sagt der Botanik-Professor Hartmut Hilger von der Freien Universität Berlin. „Wir schlagen deshalb vor, dass plausible Kriterien festgelegt werden, die den Markt für bisher nur lokal und/oder im Selbstanbau genutzte Arten sowie außereuropäische Lebensmittel offen halten. Dadurch würden sowohl die Dynamik als auch die Entwicklungsmöglichkeiten des Marktes erhalten bleiben, und die Wahlfreiheit des Verbrauchers wäre weiterhin gewährleistet.“

Mittelfristig wünschen sich Hartmut Hilger und sein Kollege Maximilian Weigend eine „Grüne Liste“ der als Lebensmittel in der EU zugelassenen Pflanzen. Die Liste sollte in jedem Mitgliedsstaat der EU auf der Basis gleicher Kriterien erstellt werden. „Damit wäre die Marktvielfalt für den Verbraucher gesichert“, meint Weigend. „Kleingewerbliche und mittelständische Unternehmer sowie Landwirte könnten sich mit Hilfe dieser Liste auf dem Markt etablieren, ohne auf kostspielige Überprüfungs- oder gar Zulassungsverfahren zurückgreifen zu müssen und vermeiden dabei gleichzeitig mögliche Konflikte mit den Überwachungsbehörden.“

Wie notwendig dabei die Beteiligung von sachkundigen Botanikern ist, zeigt sich etwa an der „Verordnung über die Reinheit von Lebensmittelfarbstoffen“ (EG/95/45). Sie steckt, so Weigend, voller chaotischer und sachlich falscher Definitionen der pflanzlichen Rohstoffe. In ihr würden Begriffe und botanische Trivialnamen ohne jegliche Definitionen durcheinander geworfen.

Ein Beispiel – der Verordnungstext zu den Chlorophyllen, die als grüne Lebensmittelfarbstoffe beliebt sind: „Chlorophylle werden durch Lösungsmittelextraktion aus natürlichen Arten essbarer Pflanzen und natürlichen Gras-, Luzerne- und Brennnesselarten gewonnen…“ Nach Einschätzung der Experten sind „natürliche Arten“ ein nicht definierter und nicht definierbarer Begriff; was mit „essbare Pflanzen“ gemeint ist, bleibt offen; „Gras“ ist ein Begriff, der jeder botanischen Definition entbehrt; die Pluralform „Luzernearten“ ist faktisch falsch, da es nur eine Luzerne gibt, nämlich Medicago sativa; „Brennnessel“ umfasst je nach Sprache ganz unterschiedliche Pflanzen.
„Eine Überarbeitung und inhaltliche Anpassung ist dringend erforderlich – und zwar sowohl im Sinne des Verbraucherschutzes als auch im Sinne der Rechtssicherheit betroffener Unternehmen“, sagt Hartmut Hilger. Die gegenwärtige Formulierung der Verordnung verbietet – wohl unabsichtlich – die Verwendung aller vom Menschen züchterisch bearbeiteter Pflanzen als Rohstoffe, das heißt, sie verbietet nahezu alle in der Praxis tatsächlich eingesetzten Rohstoffe. So ist zum Beispiel Rotkohl als Rohstoff zur Gewinnung von Lebensmittelfarbstoffen nicht zugelassen, weil er vom Menschen gezüchtet worden ist und damit keine „natürliche Pflanzenart“ darstellt. Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass „die Festlegung der zulässigen pflanzlichen Rohstoffe aus Mangel an botanischer Expertise ein kontraproduktives und großenteils sinnloses Sammelsurium von widersprüchlichen Aussagen ist“. Ilka Seer

Internationale Grüne Woche Berlin vom 21. bis zum 30. Januar 2005:
Halle 04.2, Stand 222

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Dr. Maximilian Weigend, Freie Universität Berlin, Institut für Biologie: Systematische Botanik und Pflanzengeographie, Tel.: 030 / 838-56511, Mobil: 0177 / 235 29 07 E-Mail: weigend@zedat.fu-berlin.de

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Ilka Seer idw

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