Risiken von Vioxx waren schon im Jahr 2000 erkennbar

Forschende der Universität Bern haben mit Unterstützung des Nationalen Forschungsprogramms „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NFP 53 ) die öffentlich zugänglichen Studiendaten zum Medikament Vioxx analysiert. Die Forscher kommen zum Schluss, dass die Herz-Kreislauf-Risiken des Medikamentes bereits Ende 2000 belegbar gewesen wären, und dass die Risiken unabhängig von der eingenommenen Dosis und der Dauer der Einnahme bestehen. Die Fachzeitschrift „The Lancet“ publiziert die Ergebnisse in ihrer Online-Ausgabe vom 5. November 2004.

Am 30. September zog die Firma Merck & Co. das Medikament Vioxx mit dem Wirkstoff Rofecoxib weltweit vom Markt zurück, nachdem eine Studie erhöhte Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei der Einnahme dieses COX-2-Hemmers gezeigt hatte. Das Medikament war seit längerem in Verdacht, vermehrt zu Herzinfarkten zu führen. Daher stellte sich nach dem Rückzug die Frage, ob nicht schon frühere Studien diese Risiken hätten belegen können. Ein Team um Peter Jüni und Matthias Egger vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern hat die zur Verfügung stehenden Studiendaten nun im Rahmen eines Projekts im Nationalen Forschungsprogramm „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NFP 53) mit Hilfe einer Meta-Analyse untersucht. Die Ergebnisse dieser Studie werden am 5. November in einer vorgezogenen Online-Publikation auf dem Internetportal des renommierten Medizin-Journals „The Lancet“ veröffentlicht.

Die Untersuchung basiert auf öffentlich zugänglichen Studiendaten der amerikanischen Me-dikamentenzulassungsbehörde (FDA) sowie auf einer ausgedehnten Literaturrecherche. In die Meta-Analyse wurden 18 randomisierte kontrollierte Studien und 11 Beobachtungsstudien aufgenommen. „Unsere Analyse bestätigt den Verdacht, dass spätestens Ende 2000 jene Daten greifbar waren, welche ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen durch Vioxx belegten“, sagt Peter Jüni. Zu diesem Zeitpunkt waren unter 20’742 Patienten 52 Herzinfarkte aufgetreten, 41 davon unter Vioxx – ein statistisch signifikanter Unterschied zu ungunsten von Vioxx.

Die Forscher der Universität Bern kritisieren insbesondere die Interpretation der Daten der sogenannten VIGOR-Studie aus dem Jahr 2000. Diese hatte Wirkung und Nebenwirkung von Rofecoxib (Vioxx) mit einem anderen Schmerzmittel, Naproxen (u.a. Apranax oder Aleve), verglichen. In dieser Studie waren deutliche Unterschiede bei den Herzinfarkt-Risiken zu Tage getreten. Die Leiter der VIGOR-Studie hatten diesen Unterschied aber der vermeintlich schützenden Eigenschaft von Naproxen und nicht einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko von Rofecoxib zugeschrieben. „Für diese Interpretation fanden wir aber keine Belege“, bilanziert Matthias Egger. „Schon in dieser Studie hätte eine erhöhte Häufigkeit von Herzinfarkten aufgrund von Rofecoxib in Betracht gezogen werden müssen.“

In ihrer Medienmitteilung zum Rückzug schreibt Merck, dass die Firma „aufgrund der vorhandenen alternativen Therapiemöglichkeiten und der Fragen, die durch diese Daten aufgeworfen werden, zu dem Schluss gekommen“ sei, dass eine freiwillige Marktrücknahme der beste Schritt sei. „Wenn diese Aussage im September 2004 angemessen war, dann hätte die Firma dieselbe Aussage bereits mehrere Jahre zuvor machen können oder müssen, als die Daten vorlagen, auf die wir Zugriff hatten“, sagt Matthias Egger. Zu dieser Zeit erschien aber eine Medienmitteilung von Merck mit dem Titel: „Merck bestätigt erneut die günstige kardiovaskuläre Sicherheit von Vioxx.“

Risiken bestehen unabhängig von Dauer und Dosis

Die Meta-Analyse stellt weitere Aussagen von Merck & Co. in Frage: So wurde das Medika-ment mit dem Hinweis zurückgezogen, von den Risiken seien nur Patienten betroffen, die Vioxx 18 Monate und länger eingenommen hätten. „Dies konnten wir nicht bestätigen“, sagt Jüni. „Die Daten zeigen, dass ein erhöhtes Herzinfarktrisiko bereits bei einer Einnahmedauer von wenigen Monaten besteht, und dass dieses Risiko unabhängig ist von der eingenommenen Dosis.“

Auffallend war auch, dass Studien, bei denen die Daten unabhängig erfasst und bewertet wurden, ein deutlicheres Resultat in Hinblick auf die Nebenwirkungen aufwiesen. Bei einer unabhängigen Datenerfassung werden die Studienergebnisse nicht durch die Studienleiter bewertet, sondern durch unabhängige Forschende, welche die Studie nicht selbst durchführen. „Es könnte sein“, so Egger, „dass bei einer fehlenden unabhängigen Beurteilung der Daten die Resultate günstiger eingestuft werden, so dass Medikamentenrisiken kleiner erscheinen. Wir empfehlen deshalb, dass Studien grundsätzlich mit einer unabhängigen, externen Datenbewertung durchgeführt werden.“

Mehr Transparenz und kontinuierliche Aufarbeitung der Erkenntnisse gefordert

Die Analyse der Daten zu Vioxx zeigt auch, dass die Zulassungsbehörden ihr Vorgehen kritisch überdenken sollten. Neue Daten und Erkenntnisse zu einem Medikament sollten re-gelmässig in die Dokumentation aufgenommen und fortlaufend analysiert werden. „Wie das Beispiel Vioxx zeigt, ist dies heute nicht immer gewährleistet“, sagt Jüni. „Nur mit einem kontinuierlichen Monitoring könnten wir sicherstellen, dass die Bevölkerung vor unnötigen Medikamentennebenwirkungen geschützt wird“, ergänzt Egger. „In diesem Fall sollten zudem die Gründe, weshalb Hersteller und Zulassungsbehörden neue Erkenntnisse und Daten nicht kontinuierlich erfasst und neu bewertet haben, durch ein unabhängiges Gremium untersucht werden.“

Die nun publizierte Studie ist Teil eines Projektes, das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NFP 53) durchgeführt wird. Die Studie vergleicht unterschiedliche – althergebrachte und neue Medikamente gegen Arthroseschmerzen – in ihrer Wirkung und Nebenwirkung systematisch miteinander verglichen. Die Resultate dieses Projektes sollten Mitte 2006 vorliegen.

Nationales Forschungsprogramm „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NFP 53)

Rund 30 Prozent aller Arztkonsultationen in der Schweiz sind auf Beschwerden im Bewe-gungsapparat zurückzuführen. Erkrankungen des Bewegungsapparates stellen zudem die häufigsten Ursachen dar für Frühinvalidisierungen. Trotzdem bestehen in der Schweiz noch wesentliche Wissenslücken. Es fehlen zudem weitgehend Strategien zur Vorbeugung und Behandlung dieser Erkrankungen.

Im Januar 2003 beschloss daher der Bundesrat die Durchführung des Nationalen For-schungsprogramms „Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen“ (NFP 53). Mit seinen sechs Modulen und vorerst 22 Projekten sollen die komplexen Ursachen von Krankheiten des Bewegungsapparates erforscht und praxisrelevante Resultate für die Behandlung und Vorsorge geliefert werden. Für die Durchführung des NFP 53 steht für die Dauer von fünf Jahren (2004 bis 2009) ein Betrag von 12 Millionen Franken zur Verfügung.

Weitere Informationen:

Dr. med. Peter Jüni
Institut für Sozial- und Präventivmedizin und Klinik für Rheumatologie, Universität Bern
Tel. +41 (0)31 631 33 78
juni@ispm.unibe.ch

Prof. Dr. med. Matthias Egger
Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Bern
Tel. +41 (0)31 631 35 01
egger@ispm.unibe.ch

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Nathalie Matter idw

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