Die motorische Seite des Räumlichen Sehens

Das "Schlaganfall-Info-Mobil" ist von Mai bis August 2001 in 40 deutschen Städten unterwegs. Die medizinischen Untersuchungsgeräte an Bord ermöglichen es dem beratenden Arzt, innerhalb von zehn Minuten das persönliche Schlaganfallrisiko zu ermitteln. Foto: Bayer AG


Um Stereosehen zu ermöglichen, muss das Gehirn zusammengehörende Bildelemente auf den Netzhäuten der beiden Augen finden und anschließend aus ihrer relativen Lage die räumliche Tiefe des zugehörenden Objektes bestimmen. Solange die Augen sich dabei nicht bewegen, ist es aus geometrischen Gründen nicht nötig, die ganze Netzhaut nach zusammengehörenden Elementen abzusuchen – es genügt die Suche entlang sogenannter epipolarer Linien.

Für jede Stelle in der Netzhaut des einen Auges gibt es eine definierte epipolare Linie im anderen Auge. Da die Suche nach zusammengehörenden Bildelementen in komplizierten Umgebungen (oder beim Betrachten sogenannter Random-Dot-Stereogramme) sehr aufwendig werden kann, ist die Vereinfachung durch den Übergang von einer zweidimensionalen Suche über die ganze Netzhaut zu einer eindimensionalen entlang einer Linie oder eines schmalen Streifens beträchtlich. Die Standardmodelle des Stereosehens nahmen daher an, dass das Gehirn diese Vereinfachung kennt und nutzt.
Tatsächlich aber ändert sich die Lage der epipolaren Linien auf der Netzhaut, wenn die Augen sich bewegen. Das heißt, derselbe Lichtfleck auf der linken Netzhaut erfordert eine Suche entlang verschiedener epipolarer Linien auf der rechten, abhängig von der Augenposition.

Das Gehirn hat nun zwei grundsätzliche Möglichkeiten: entweder es berechnet aus der jeweiligen Augenposition die Lage der epipolaren Linien und benutzt die sich daraus ergebende Vereinfachung der Suche – oder es sucht in den zweidimensionalen retinalen Zonen, durch die die epipolaren Linien wandern, wenn sich die Augen bewegen.

Die beteiligten Wissenschaftler haben Random-Dot-Stereogramme entwickelt, mit denen sie zeigen können, dass das Gehirn der zweiten Strategie folgt. Der Teil des visuellen Systems, der gleichartige Bildelemente findet und einander zuordnet, sucht nicht entlang der epipolaren Linien. Es kann dort nicht suchen, weil er nicht weiß, wo auf der Netzhaut sie sich befinden. Die Suche muss daher mindestens jene retinale Zone berücksichtigen, in der die epipolaren Linien für verschiedene Augenposition liegen können.

Die Größe dieser retinalen Zonen hängt vom genauen Muster der Augenbewegungen ab: Während die horizontale und vertikale Blickrichtung vom fixierten Ziel vorgegeben werden, können die Augen zusätzlich um die Blicklinie rotieren. Im 19. Jahrhundert bereits hat man herausgefunden, dass diese Rotation um die Blicklinie, die sogenannte Torsion, ebenfalls vom Ziel vorgegeben wird. Unerwarteterweise nehmen die Augen des Menschen allerdings unterschiedliche Torsionsstellungen ein, abhängig davon, ob das betrachtete Objekt weit entfernt oder nahe ist. Während das Muster der Torsionswinkel für entfernte Objekte – Listings Gesetz – recht gut verstanden ist und zahlreiche Vorteile beschrieben wurden, die mit ihm verbunden sind, gab es bislang keinen überzeugenden Grund, warum die Augen sich gegenüber nahen Zielen anders verhalten sollten – zumal die Argumente für Listings Gesetz auch hier gelten.

Die Simulationen haben gezeigt, dass die Abweichung von Listings Gesetz, die Menschen gegenüber nahen Zielen zeigen, die Suchzonen auf der Retina verkleinern. Das Oculo-motorische System, das die Augenbewegungen steuert, weicht vom vorteilhaften Listingschen Gesetz ab, um das Stereosehen zu vereinfachen.

Es konnte gezeigt werden, dass das senso-motorische System, das die Augen steuert, um Stereosehen zu ermöglichen, nicht vollständig verstanden werden kann ohne Blick auf die Interaktion der sensorischen und motorischen Teilsysteme. Lässt man bei der Untersuchung des Stereosehens die Augenbewegungen unberücksichtigt, unterschätzt man die Komplexität der Suche nach zusammengehörenden Bildelementen. Vernachlässigt man die Anforderungen der sensorischen Seite, erscheinen die Muster der Augenbewegungen unverständlich und sogar kontraproduktiv, weil sie von einem gut verstandenen Optimalmuster (Listings Gesetz) abweichen.

Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass die hier exemplarisch gezeigte Bedeutung senso-motorischer Interaktion ein generelles Prinzip beleuchtet und dass die Untersuchung des Zusammenwirkens der Wahrnehmung mit der Ausführung zu besserem Verständnis zahlreicher Gehirnsysteme führen kann. Von klinischem Interesse sind die Ergebnisse möglicherweise für die Rehabilitation von Patienten mit Strabismus (Schielen).

Ansprechpartner für nähere Informationen

Universitätsklinikum Tübingen
Neurologische Universitätsklinik
Prof. Dr. Michael Fetter
Tel. 0 72 02 / 61 36 06
E-Mail: Michael.Fetter@kkl.srh.de

** "The motor side of depth vision"
by Kai Schreiber et al. (Depts of Physiology and Medicine, Univ. of Toronto AND Canadian Insts. for Health Rsch, York Univ, Toronto), Michael Fetter (Dept of Neurology, University Hospital, Tubingen); Nature, 12 April 2001

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Dr. Ellen Katz idw

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