Radfahrtraining im Parabelflug: Muskeln reagieren bei Schwerelosigkeit völlig unerwartet

Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz untersuchen Muskelreaktion bei Schwerelosigkeit unter Belastung. Parabelflüge des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ermöglichen Weltraumbedingungen.

Die Schienbein- und Wadenmuskulatur wird beim Training auf dem Fahrradergometer unter Schwerelosigkeit völlig anders belastet als unter dem Einfluss der Erdanziehung. Dies ist ein erstes Ergebnis einer Untersuchung von Wissenschaftlern der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, das gerade im Hinblick auf zukünftige längere Weltraumflüge von Bedeutung ist. „Unsere Trainingsgeräte wirken hier auf der Erde ganz anders als im schwerelosen Raum“, erklärte Dr. Friedrich Bodem. „Die Schienbeinmuskulatur wurde bei allen Probanden viel stärker aktiviert als die Wadenmuskulatur. Das hat uns sehr überrascht.“

Der Medizinphysiker, Leiter des Biomechaniklabors der Orthopädischen Klinik und Poliklinik der Mainzer Universität, ist zusammen mit der Privatdozentin Dr. med. Andrea Meurer für das Forschungsprojekt „Untersuchung der Muskelaktivität beim Training auf einem Fahrradergometersystem in Mikrogravitation“ verantwortlich. Sein Team begab sich im Juni dieses Jahres für zwei Wochen nach Bordeaux, um an der 5. Parabelflugmission des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) teilzunehmen. Bei diesen Flügen steigt ein Airbus A300 in die Luft und führt über dem Nordatlantik spezielle Manöver durch: In einer Höhe von 6000 Metern beginnt der Testpilot einen Steilflug mit voller Schubkraft, bei einem bestimmten Winkel werden die Motoren gedrosselt und das Flugzeug fliegt dann entlang einer Parabel wie ein geworfener Stein durch die Luft. Für 22 Sekunden herrscht in der Kabine Schwerelosigkeit. Dann fängt der Pilot die Maschine im Sturzflug nach unten wieder ab und bringt sie in die Waagrechte. Das Prozedere wird bei einem Flug 30 Mal wiederholt.

„Nach dem Einsteinschen Äquivalenzprinzip spielt es für physikalische Experimente keine Rolle, ob wir Schwerelosigkeit in einem Raumschiff weit draußen im Weltraum, in einer Umlaufbahn um die Erde oder in einer Flugzeugkabine erfahren, die sich im freien Fall zur Erde befindet beziehungsweise einer idealen Wurfparabel folgt“, erklärt Bodem den Hintergrund der Versuchsbedingungen. Unter Schwerelosigkeit entstehen viele ungewöhnliche Effekte. So mischen sich beispielsweise Öl und Wasser zu einer stabilen Emulsion, während sich die Flüssigkeiten unter normalen Schwerkraftbedingungen wieder entmischen.

Bei den Mainzer Untersuchungen ging es darum, wie sich die Beinmuskulatur auf einem speziellen Trainingssystem in Schwerelosigkeit verhalten würde. Hüfte, Ober- und Unterschenkel der Probanden wurden dazu an acht ausgewählten Po-sitionen mit jeweils zwei Elektroden beklebt, die ähnlich wie beim Elektrokardiogramm die Elektrizität ableiten, die bei einer Muskelkontraktion entsteht. „Muskeln zeigen bei Kraftentwicklung elektrische Aktivität. Wir können dies mit der Oberflächenelektromyographie (EMG) aufzeichnen und dann mit computerunterstützter Messdatenanalyse eine Muskelfunktionsdiagnostik durchführen“, erläutert der Versuchsleiter. Die Testpersonen gehen – ausgestattet mit Elektroden, Verbindungskabeln und einer Signalverarbeitungsbox, die ihnen um den Hals hängt – in die Maschine und legen sich dort in eine Röhre, die fast bis zur Brust reicht. Diese LBNPD (lower body negative pressure device) genannte Vorrichtung dient dazu, „für die Körperflüssigkeiten in der Schwerelosigkeit einen der Schwere ähnlichen Effekt zu simulieren“, wie es Bodem darstellt. Sie wurde vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt für den zukünftigen Einsatz in Raumstationen konzipiert. Zum Kreislauftraining werden Hüftregion und Beine in der Röhre einem genau dosierten Unterdruck ausgesetzt, wodurch mehr Blut in den unteren Körperbereich fließt. Zum gleichzeitigen Muskeltraining wurde ein Fahrradergometer in diese Röhre eingebaut. Die erstmalige Erprobung dieses kombinierten Trainingssystems für Astronauten in Schwerelosigkeit konnte beginnen.

„Es war schon eine umwerfende Erfahrung“, beschreibt Dr. Matthias Lochmann von der Klinik für Nuklearmedizin der Universität Mainz sein erstes Erlebnis mit dem Parabelflug. Der Medizinphysiker und Sportwissenschaftler hat sich als Ver-suchsperson und EMG-Systemoperator mit auf den Flug und in die Röhre begeben – nicht ohne Vorkehrungen gegen „motion sickness“ getroffen zu haben. „Durch die Beschleunigung und die Steilflüge senden Augen und Gleichgewichts-organe Informationen an das Gehirn, die inhaltlich nicht zusammen passen“, erklärt Lochmann. Gegen die Reisekrankheit gibt es Medikamente und den Tipp, den Blick möglichst auf einen selbst definierten Horizont oder ein entferntes Ziel zu richten. Falls dennoch andere schwere Störungen wie Herz-Kreislauf-Probleme bei den Versuchspersonen aufgetreten wären, hätte das Experiment sofort unterbrochen werden müssen.

Beim 5. Parabelflug der DLR war das glücklicherweise nicht nötig. Auch die Untersuchungen der Mainzer Forscher klappten reibungslos. „Wir konnten zeigen, dass unsere Methode sehr gut geeignet ist, um Effekte der Schwerelosigkeit auf die Wirkungsweise der Muskulatur in der vorgegebenen Trainingssituation nachzuweisen.“ Wie Lochmann weiter darlegt, deckt sich der Befund zum vorderen Schienbeinmuskel auch mit dem subjektiven Empfinden der Versuchspersonen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich das Pedal nach Beginn der Flugparabel beim Treten unwillkürlich verstärkt zurückziehen würde“, erklärt er in Übereinstimmung mit anderen Probanden. Die EMG-Testdaten dieses Muskels zeigen in Schwerelosig-keit zunächst einen normalen Zyklusbeginn und plötzlich eine sehr starke Aktivierung. Die Aktivität der Wadenmuskulatur nimmt dagegen ab. „Wir werden sehr wahrscheinlich auch bei anderen Muskeln deutliche Effekte feststellen, jedoch nicht ganz so gravierend wie beim vorderen Schienbeinmuskel und seinem Gegenspieler“, erwartet Bodem. Die Auswertung der insgesamt rund 500 Muskeldatensätze soll bis Weihnachten abgeschlossen sein.

Kontakt und Informationen:
Dr. Friedrich Bodem
Orthopädische Klinik und Poliklinik
Tel. 06131/17-2337
Fax 06131/17-6612
E-Mail: bodem@mail.uni-mainz.de

Dr. Matthias Lochmann
Klinik für Nuklearmedizin
Tel. 06131/17-2801, 6739 oder 6724
Fax 06131/17-2386
E-Mail: lochmann@nuklear.klinik.uni-mainz.de

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Petra Giegerich idw

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