Wie das Trauma zur "normalen" Erinnerung wird

Jedes vierte Opfer entwickelt eine Belastungsstörung / Frühzeitige Behandlung mit rhythmischen Augenbewegungen und Psychotherapie erfolgreich

Nach schweren Gewalttaten und Katastrophen entwickelt im Durchschnitt jedes vierte Opfer eine psychische Störung, die behandelt werden muss. Sonst sind die Betroffenen gezwungen, das schlimme Ereignis immer wieder zu durchleben. Eine spezielle Therapie, die auf rhythmischen Augenbewegungen beruht, kann in Verbindung mit herkömmlicher Psychotherapie die Erinnerung an belastende Ereignisse „entschärfen“ und in das Leben integrieren. Dies stellten Traumaexperten bei dem Kongress „Wege aus der Wortlosigkeit“ fest, der am vergangenen Wochenende in Heidelberg mit ca. 800 Teilnehmern stattfand.

Frauen und Ausländer beiden Geschlechts sind besonders gefährdet: Sie entwickeln nach einer Gewalttat häufiger eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Keinen Einfluss dagegen haben die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht sowie das Alter des Betroffenen. Dagegen ist das Risiko erhöht, wenn längere Zeit eine Arbeitsunfähigkeit besteht. Dies sind erste Ergebnisse der Heidelberger Gewaltopferstudie, an der bislang 70 Personen teilnahmen, die in jüngster Zeit Opfer eines Gewaltverbrechens im Stadtbereich Heidelberg waren. Darüber berichtete Privatdozent Dr. Günter H. Seidler, Leiter der Sektion Psychotraumatologie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg, bei einer Pressekonferenz anlässlich des Heidelberger Kongresses.

Folter- und Vergewaltigungsopfer leiden meist an Belastungsstörungen

Etwa ein Prozent der Bevölkerung sind an einer chronischen Belastungsstörung als Folge eines Traumas erkrankt. Es kann jüngerer Zeit, aber auch in der Kindheit passiert sein. Nicht alle Menschen, die gewalttätige, verstörende Erlebnisse hatten, leiden ein Leben lang unter den Folgen, falls ihnen therapeutisch nicht geholfen wird. Je nach Trauma sind es etwa ein Viertel der Betroffenen, die das Erlebte ohne therapeutische Hilfe nicht verarbeiten können. Besonders häufig betroffen sind systematisch gefolterte Menschen und vergewaltigte Frauen (50 bis 80 Prozent), gefolgt von Opfern von Gewaltverbrechen, Kriegserlebnissen, schweren Unfällen und Naturkatastrophen. Je stärker die Persönlichkeit selbst und ihre sozialen Bindungen angegriffen wird, desto höher die Gefährdung. Kinder reagieren besonders sensibel auf ausgeübte oder angedrohte Gewalt.

Traumaopfer werden ihre quälenden Erinnerungen nicht mehr los: Schon geringe Erinnerungsreize lassen das Geschehene wie einen Film ablaufen, ohne dass darauf Einfluss genommen werden kann. Viele Betroffene können den Alltag nicht mehr bewältigen, fühlen sich von der Realität abgetrennt, ziehen sich zurück und entwickeln zusätzlich andere schwere psychische Störungen. „Die etablierte Psychotherapie allein kann hier nicht helfen“, erklärte Prof. Dr. Peter Fiedler, Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Heidelberg. Denn hier versuche man vor allem, durch Analyse das Geschehene zu verarbeiten. Gespräche reichten jedoch nicht aus, um traumatische Ereignisse zu verarbeiten, ja könnten sie ohne Zusatztherapie sogar zu weiteren psychischen Schäden führen: „Traumatische Erlebnisse lassen sich nicht wegreden.“

Seit einigen Jahren hat sich die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) als wissenschaftlich geprüfte, effektive Therapie erwiesen: Der Patient ruft sich das traumatische Ereignis vor Augen, seine Verarbeitung wird durch rhythmische Augenbewegungen oder Berührungen gefördert. Dabei werden traumähnliche Prozesse in Gang gesetzt, die unverbundenen Erinnerungsfetzen werden zu ganzheitlicher Erinnerung verschmolzen. Zurück bleibt das Wissen um ein schreckliches Ereignis; die Bilder hören jedoch auf zu kreisen und verlieren ihre Bedrohung. „Der Patient muss zunächst ausreichend psychisch stabilisiert werden, um sich den schlimmen Ereignissen wieder aussetzen zu können,“ erklärte Dr. Arne Hofmann, Leiter des EMDR-Instituts Deutschland in Bergisch-Gladbach. Er wies darauf hin, dass nur zertifizierte Therapeuten, die das Verfahren unter Qualitätskontrolle erlernt hätten, EMDR praktizieren dürfen. In Deutschland stehen ca. 250 Therapeuten zur Verfügung.

Übererregung und Zellzerstörung im Gehirn nachgewiesen

„Warum EMDR wirkt, wissen wir nicht“, sagte Dr. Hofmann. Dennoch gibt es mittlerweile naturwissenschaftliche Belege dafür, dass Psychotraumata sichtbare Spuren im Gehirn hinterlassen und die Therapie in der Lage ist, diese zum Teil rückgängig zu machen. „Bei Gewaltopfern wurde mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Kernspintomographie festgestellt, dass bestimmte Gehirnstrukturen sehr stark erregt sind, die für Gefühle verantwortlich sind“, sagte Prof. Dr. Gerhard Roth, Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen. Dazu zählt vor allem der Mandelkern (Amygdala). Ein Hirnbereich, der für Erinnerung zuständig ist, der sogenannte Hippokampus, weist bei Traumaopfern Schädigungen seiner Zellen auf, die durch eine effektive Therapie rückgängig gemacht werden können. Bei langfristigen Belastungsstörungen sind Teile dieser Region zerstört.

„Deutschland ist Entwicklungsland in der Psychotraumatologie“

Diese Forschungsergebnisse sind neueren Datums. „Die Psychotraumatologie ist ein junges Gebiet“, erklärte Dr. Seidler. Einen Vorsprung haben die USA: Nachdem in den achtziger und neunziger Jahren Vietnam-Veteranen mit den üblichen psychotherapeutischen Verfahren nicht von ihren schweren psychischen Störungen zu heilen waren, begannen dort in den neunziger Jahren intensive Forschungsarbeiten.

„Deutschland ist hier noch Entwicklungsland“, stellten die Experten bei der Heidelberger Tagung fest. Dies gelte nicht nur für die Forschung, sondern auch für den Versorgungsstand. Während die medizinische Katastrophenversorgung von Unfallopfern flächendeckend organisiert sei, gebe es z.B. im südwestdeutschen Raum neben Heidelberg nur eine weitere Klinik, in der Traumaexperten beschäftigt seien. Für ein „Großschadensereignis“, z.B. ein großes Eisenbahnunglück, ständen nicht ausreichend Fachleute zur Verfügung, die sich im Anschluss um die Opfer und ihre Angehörigen kümmerten, um schwere langfristige Schäden des Traumas zu vermeiden.

Weitere Informationen zur Psychotraumatologie im Internet:

Psychosomatische Universitätsklinik Heidelberg

„Der psychisch traumatisierte Patient in der ärztlichen Praxis“ (Dr. Günter Seidler, Deutsches Ärzteblatt, Februar 2002, S. 77)

Leitlinien der AWMF zur Posttraumatischen Belastungsstörung

EMDR-Institut Deutschland

EMDR-Institut USA

Media Contact

Dr. Annette Tuffs idw

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