Neue Arzneimitteltests in der EU

Sicherere Medikamente und Vermeidung von jährlich 200 000 Tierversuchen

Heute hat Philippe Busquin, für Forschung zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission, in Brüssel bahnbrechende neue Methoden für Arzneimitteltests vorgestellt, die sichere Alternativen zu Tierversuchen bieten und so jährlich bis zu 200 000 Kaninchen den Einsatz als Versuchstier ersparen. Mit der sechsteiligen Testreihe werden Pyrogene (fiebererzeugende Stoffe) in Arzneimitteln unter Verwendung menschlicher Blutzellen anstelle von Kaninchen ermittelt. Die neuen Tests wurden mit Unterstützung der EU von einem Forschungsteam aus nationalen Überwachungslaboratorien, Testentwicklern und Unternehmen erarbeitet. Sie werden derzeit von der Kommission validiert. Die Tests werden bereits weltweit in mehr als 200 Labors eingesetzt. Dank dieser alternativen Methoden kann bei der Ermittlung von Pyrogenen in parenteral (also unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes) verabreichten Medikamenten künftig auf Tierversuche mit Kaninchen verzichtet werden.

„Zur Gewährleistung der menschlichen Gesundheit sind Arzneimittelversuche an Tieren leider unverzichtbar“, erklärt Forschungskommissar Philippe Busquin. „Wir können Tierversuche jedoch verbessern und durch Alternativlösungen auf ein Minimum reduzieren, wobei die von der EU geförderte Forschung weltweit führend ist. Durch die Validierung dieser neuen Testmethoden in der EU wird deren Einführung im industriellen Maßstab gefördert; das gewährleistet die Sicherheit und Qualität der Arzneimittel und verringert die Anzahl von Tierversuchen. Dies ist ein Beispiel für das Funktionieren des Europäischen Forschungsraums, durch den ein Umfeld geschaffen wird, in dem wissenschaftliche Ergebnisse rasch genutzt und in Erzeugnisse und Verfahren umgesetzt werden können, die die Lebensqualität verbessern, die Wettbewerbsfähigkeit steigern und dem Tierschutz dienen.“

Die Sicherheit und Wirksamkeit handelsüblicher Medikamente und Impfstoffe muss gewährleistet werden. Durch die von der Kommission finanzierte und validierte innovative Forschung sollen bestehende, auf Tierversuchen basierende Testverfahren zur Ermittlung von Pyrogenen in parenteral verabreichten Arzneimitteln durch eine neue Generation von In-vitro-Tests ersetzt werden, die präziser, schneller und kosteneffizienter sind.

Blutzellen statt Kaninchen

Bei der Erforschung der Humanimmunologie wurden in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Die Untersuchung der menschlichen Fieberreaktion und die Entwicklung von Testsystemen für Fiebermediator-Moleküle ermöglicht in Verbindung mit verbesserten zellbiologischen Techniken nun den innovativen Einsatz menschlicher Zellen als Biosensoren für Pyrogene. Gegenstand der EU-Studie waren Vergleich und Harmonisierung von sechs In-vitro-Tests und die Entwicklung einer dem Stand der Technik entsprechenden Methode zur Aufnahme in das Europäische Arzneibuch, in dem die Qualitätskontrolle von Arzneimitteln in Europa geregelt ist, im Interesse größerer Sicherheit für die Verbraucher.

Rolle der EU

Das im Zuge des 5. Forschungs-Rahmenprogramms der EU (1998 bis 2002) finanzierte Forschungsprojekt brachte die besten Teams aus Hochschulen, Industrie und Aufsichtsbehörden zusammen. Die Gemeinsame Forschungsstelle der Kommission (das Europäische Zentrum zur Validierung alternativer Methoden ECVAM) spielte durch die wissenschaftliche und technische Unterstützung bei der Konzeption der Validierungsstudie, Anwendung bewährter Laborpraktiken und Verbreitung und Kodierung von Testmaterialien eine tragende Rolle im Projekt.

Industrie und Aufsichtsbehörden schließen sich an

Das Interesse an dem Projekt ist sowohl auf Seiten der Aufsichtsbehörden als auch der Industrie sehr groß; zahlreiche Beiträge werden auch außerhalb des Projektkonsortiums geleistet, das sich aus einzelstaatlichen Überwachungslaboratorien, Testentwicklern, einer bedeutenden Pharmagesellschaft und einem Hersteller von Diagnoseausrüstungen zusammensetzt. Die Europäische Arzneibuchkommission beispielsweise hat eine internationale Sachverständigengruppe eingesetzt, die eine allgemeine Methode zu diesen neuen Tests entwickeln soll. Die Tests werden nämlich bereits in ca. 200 Laboratorien weltweit mit großem Erfolg angewandt.

Verbreitung und neue Anwendungen

Die Kommission wird für die weitere Anwendung dieser multidisziplinären internationalen Validierungsstudie und die Patentierung Sorge tragen. Dies wird dem erfolgreichen Transfer der Tests Impulse verleihen und zur Erschließung neuer Anwendungsgebiete für Pyrogentests beitragen, z.B. im Rahmen von Zelltherapien, in medizinischen Geräten und bei der Bekämpfung der Umweltbelastung am Arbeitsplatz.

Reduzierung, Substitution und Perfektionierung von Tierversuchen

Die Überwachung der Arzneimittelqualität ist eine grenzüberschreitende Angelegenheit, die in Europa auf EU-Ebene harmonisiert und geregelt ist und mithin eine internationale Zusammenarbeit voraussetzt. Die Europäische Kommission setzt sich in Übereinstimmung mit der Richtlinie 86/609/EWG des Rates aus dem Jahr 1986 nachdrücklich für Verringerung, Ersatz und Perfektionierung von Tierversuchen ein. Dieses Ziel schlägt sich auch im Europäischen Arzneibuch nieder. Durch die Strategie der Verringerung, Substitution und Perfektionierung können Tierversuche ohne Beeinträchtigung der Qualität der wissenschaftlichen Arbeit auf ein Minimum reduziert werden.

Die Rolle des Europäischen Zentrums zur Validierung alternativer Methoden besteht darin, internationale Validierungsstudien zu koordinieren, als Knotenpunkt des Informationsaustausches zu fungieren, eine Datenbank zu Alternativmethoden zu schaffen und zu pflegen und den Dialog zwischen Gesetzgebern zu fördern.

Hintergrund: Pyrogene und parenteral verabreichte Arzneimittel

Parenteral verabreichte Arzneimittel werden in ganz Europa regelmäßig zur Behandlung verschiedener Krankheiten eingesetzt. Um die Sicherheit von derart häufig eingesetzten Arzneimitteln zu gewährleisten, ist eine strenge Überwachung und die Prüfung jeder Charge auf etwaige Pyrogenkontamination erforderlich. Das wichtigste Pyrogen ist Endotoxin, Bestandteil der Zellwand gramnegativer Bakterien, die durch Leukozyten (insbesondere Monozyten und Makrophagen) endogene Fiebermediatoren erzeugen können.

Kaninchen oder …

Beim Pyrogentest an Kaninchen wird den Tieren die Testssubstanz injiziert und anschließend die Entwicklung der Körpertemperatur registriert. Ein erheblicher Temperaturanstieg ist ein Indiz für das Vorhandensein von Pyrogenen. Dieses Verfahren hat sich zwar bei der Arzneimittelqualitätssicherung mehr als 50 Jahre lang bewährt, für wichtige neue Therapien unter Verwendung von z.B. Blutzellprodukten oder speziesspezifischen Wirkstoffen ist es jedoch ungeeignet.

… Pfeilschwanzkrebse?

Bislang war die einzige verfügbare In-vitro-Alternative dazu der LAL-Test, der eine Gerinnungsreaktion der Blutzellen des Pfeilschwanzkrebses Limulus polyphemus nutzt. Beim LAL-Test kann jedoch nur eine Kategorie von Pyrogenen ermittelt werden, nämlich Endotoxine gramnegativer Bakterien; sie schützen den Patienten also nicht vor der Gefährdung durch fiebererzeugende Stoffe, die keine Endotoxine sind, wie z.B. Toxine grampositiver Bakterien, Viren und Pilze. Außerdem kann der Test durch verschiedene nichtpyrogene Stoffe beeinflusst werden. Und schließlich kann der Test, der sich auf das Abwehrsystem eines Gliederfüßers stützt, keine Ergebnisse liefern, die vollständig auf Menschen übertragbar sind.

Nein — menschliche Blutzellen!

Deshalb wurden als Alternative sechs Zelltests entwickelt, die den Pyrogentest an Kaninchen ersetzen und die Sicherheitslücke bei der Prüfung parenteral verabreichter Arzneimittel mit dem LAL-Test schließen können. Diese Testverfahren basieren ausnahmslos auf der Reaktion menschlicher Leukozyten (vorwiegend Monozyten), die bei Kontamination durch exogene Pyrogene Entzündungsmediatoren (endogene Pyrogene) freisetzen.

Rascher, präziser und wirksamer

Gegenüber dem Tierversuch weisen die neuen Tests mehrere Vorteile auf: sie sind weniger aufwändig, kostengünstiger und genauer. Die Ergebnisse der Validierungsstudie weisen darauf hin, dass auf Tierversuche vollständig verzichtet werden kann. Im Gegensatz zum LAL-Test sind die neuen Verfahren nicht auf Endotoxine gramnegativer Bakterien beschränkt, sondern zur Ermittlung aller Arten von Pyrogenen geeignet; sie geben Aufschluss über die Potenz verschiedener Endotoxine in Säugern, ohne durch endotoxinbindende Bestandteile von Blutzellprodukten beeinträchtigt zu werden. Eine für den Handel bestimmte Testausrüstung wurde bereits entwickelt und genormt, und ein vielseitig verwendbares Testreagens aus vorgetestetem Tiefkühlblut mit Blutzellen als Biosensoren befindet sich in Entwicklung.

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