Forscher finden Gendefekt, der Epilepsie verursachen kann

Weltweit leiden rund 70 Millionen Menschen an einer so genannten idiopathischen Epilepsie. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein: Sekundenlange Bewusstlosigkeit, Zuckungen der Arme oder Beine, aber auch schwere Krampfanfälle. Forscher der Universitäten Bonn, Ulm und Aachen konnten nun ein Gen identifizieren, das – wenn es nicht richtig funktioniert – sämtliche Formen häufig vorkommender idiopathischer Epilepsien auslösen kann. Ihre Ergebnisse wurden soeben im renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature Genetics“ veröffentlicht.

Der „Struwwelpeter“ liest sich streckenweise wie die Beobachtungen eines Epilepsie-Forschers: Hans Guck-in-die-Luft, dessen „Blick stets am Himmel hing“, bis er „Bauz! Perdauz!“ stürzte, könnte gut unter einer Absence-Epilepsie gelitten haben. „Diese Variante trifft meist Kinder im 4. und 5. Lebensjahr“, erklärt der Bonner Mediziner Dr. Armin Heils. „Sie werden für zehn oder zwanzig Sekunden bewusstlos, drehen ihre Augen zum Himmel, laufen dabei aber weiter, bis sie schließlich stolpern und stürzen.“ Andere Kinder werden im Alter von 10 oder 12 Jahren plötzlich zum „Zappel-Philipp“: Nach dem Aufwachen oder am Frühstückstisch beginnen ihre Arme oder Beine plötzlich unwillkürlich zu zucken, sie fegen den Teller vom Tisch oder lassen ihren Kakaobecher fallen.

„Wir unterscheiden insgesamt sieben verschiedene Typen sogenannter idiopathischer Epilepsien“, sagt Dr. Heils. Am bedrohlichsten sind die so genannten „Grand-Mal-Anfälle“, die mit Bewusstlosigkeit, schweren Muskelkrämpfen und Schaumbildung vor dem Mund einher gehen. „Gemeinsam ist allen Formen, dass sie familiär gehäuft auftreten, die Veranlagung also vererbt wird; einige seltene Varianten werden sogar durch einen einzigen Gendefekt hervorgerufen.“ Die Bonner Epileptologen konnten nun – weltweit erstmalig – eine Erbanlage identifizieren, deren Störung verschiedene Typen idiopathischer Epilepsien hervorrufen kann. Welche Variante der Patient letztlich bekommt, hängt wahrscheinlich von weiteren Genen ab.

Jede Nervenzelle kommuniziert mit zahlreichen Nachbarzellen über elektrische Impulse. Ein epileptischer Anfall entsteht, wenn sich diese Impulse unkontrolliert ausbreiten: Ein einziges Ausgangssignal kann dann in Millionen von Nervenzellen eine elektrische Antwort hervorrufen. Ein kleiner Botenstoff namens „GABA“ verhindert das normalerweise: Er macht die Nervenzellen schwerer erregbar. Das Beruhigungsmittel Valium ist gewissermaßen ein GABA-Nachbau.

Ob GABA die Signalausbreitung wirklich bremsen kann, hängt allerdings von der Chlorid-Konzentration in den Nervenzellen ab: Ist die nämlich zu hoch, wirkt der Botenstoff eher wie ein zusätzlicher Tritt auf’s Gaspedal. Das Epilepsie-Gen enthält den Bauplan für einen Kanal, durch den Chlorid-Ionen aus den Nervenzellen nach außen gelangen können. Hat sich in den Bauplan ein Schreibfehler eingeschlichen, der den Kanal unbrauchbar macht, steigt die Chlorid-Konzentration in der Zelle an: GABA kann nicht mehr die gewünschte Wirkung entfalten; epileptische Anfälle sind die Folge.

Die Bonner Arbeitsgruppe untersuchte insgesamt 46 Familien, von denen mindestens zwei Mitglieder an einer idiopathischen Epilepsie erkrankt waren. „Bei drei Familien war das Gen für den Chlorid-Kanal mutiert; die erkrankten Familienmitglieder hatten jeweils das defekte Gen vererbt bekommen, die gesunden dagegen nicht“, so Dr. Heils. In einer Familie war der Kanal trotz der Mutation noch teilweise funktionsfähig; die Erkrankten erlitten seltener epileptische Anfälle, die zudem schwächer waren als bei den beiden anderen Familien. „Die Betroffenen litten an völlig unterschiedlichen Formen der idiopathischen Epilepsie“, sagt Dr. Heils weiter – „ein Indiz dafür, dass bei der Erkrankung noch andere Gene eine Rolle spielen.“ Bei 360 gesunden Kontrollpersonen konnten die Forscher dagegen keine Veränderungen des Kanal-Gens finden.

Ansprechpartner für die Medien:
Dr. Armin Heils
Klinik für Epileptologie der Universität Bonn
Tel.: 0228/287-9342
Fax: 0228/287-6294
E-Mail: armin.heils@ukb.uni-bonn.de

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Dr. Andreas Archut idw

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