Spezialsprechstunde hilft Schlangenmenschen

Zur Ehlers-Danlos-Diagnose nach Lübeck: Patientin Monika (im Rollstuhl) und (v.l.n.r.) Mutter Adena aus Polen mit Dr. Martin Russlies und Dr. Anne Martinez-Schramm

Patienten mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom leiden unter Gelenk-, Haut- und Organproblemen – Bundesweit einmalige Einrichtung an der Lübecker Uniklinik

Jeder kennt sie, die Schlangenmenschen, die Arme und Beine verknoten oder sich in winzige Kästen zwängen können. Im Zirkus und auf Jahrmärkten werden sie wegen ihrer extremen Überbeweglichkeit und der Hyperelastizität der Haut gern als Attraktion präsentiert. Dass diese vermeintlichen sportlichen Höchstleistungen auf eine Bindegewebserkrankung zurück zu führen sind, die für viele Patienten schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge haben können, wissen die wenigsten. Denn das so genannte Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) ist eine seltene, schwer zu diagnostizierende Erkrankung.
Die Klinik für Orthopädie der Universität Lübeck (komm. Leiter Dr. Martin Russlies) ist Anlaufstelle für EDS-Patienten aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland, denn hier existiert die einzige interdisziplinäre Spezialsprechstunde für das oft verkannte Leiden. Oberarzt Priv.-Doz. Dr. Peter Behrens hat die Sprechstunde initiiert, heute leitet sie Dr. Anne Martinez-Schramm.

„Ich war schon bei meiner Geburt ganz weich“, weiß Monika Dekowska, EDS-Patientin aus Polen, und drückt ihren Daumen problemlos gegen den Unterarm. Die 20jährige Psychologiestudentin, die in einem kleinen Ort nahe Stettin aufgewachsen ist, hat erst mit vier Jahren gehen gelernt. Ihren Gelenken fehlt jegliche Stabilität, die Muskulatur ist sehr schwach, die Wirbelsäule stark verkrümmt. Schmerzen waren von frühster Kindheit an ihr Wegbegleiter – Tag und Nacht. „Wir sind in Polen von einem Arzt zum anderen gegangen. Jeder sagte etwas anderes, helfen konnte keiner“, erzählt Monikas Mutter Adena.

Die Schmerzen waren nur im Stehen oder Liegen zu ertragen. Deshalb hat Monika die letzten Schuljahre nicht am Tisch, sondern auf einer Matratze liegend im Klassenzimmer verbracht. Auch das Abitur und die Aufnahmeprüfungen für die Universität hat sie – erfolgreich – im Liegen absolviert. Seit einigen Monaten jedoch muss Monika gezwungenermaßen sitzen: Ihre Kniegelenke schmerzen derart, dass sie weder stehen noch gehen kann. „Bei Monika haben wir eine Reihe typischer Symptome für das Ehlers-Danlos-Syndrom festgestellt. Exakte Untersuchungen müssen jetzt ergeben, ob tatsächlich ein EDS vorliegt und welche Organe beteiligt sind“, erläutert Dr. Martinez-Schramm.

Beim Ehlers-Danlos-Syndrom handelt es sich um eine vererbbare Bindegewebsschwäche, der meist eine Störung bei der Kollagenbildung zugrunde liegt. Bekannt sind in Deutschland etwa 400 betroffene Patienten. Die Zahl der tatsächlich Erkrankten kann jedoch deutlich höher liegen: Weil die Symptome unterschiedlich stark ausgeprägt sind, bleibt das Krankheitsbild häufig unerkannt, undiagnostiziert und untherapiert. Viele Patienten erfahren erst im fortgeschrittenen Alter die richtige Diagnose. Wegen der häufigen Stürze und Verletzungen sind sie bis dahin oft dem Gespött ihrer Mitmenschen ausgesetzt und werden als Simulanten dargestellt. Manches Mal werden die Erkrankungen jedoch schon kurz nach der Geburt entdeckt: „Man kann die Säuglinge nicht festhalten. Sie rutschen wie eine Gummipuppe durch die Hände, weil die Gelenke instabil sind, die Haut hyperelastisch und weich ist“, erklärt Dr. Martinez-Schramm.

Das Syndrom selbst ist eine relativ junge Krankheit: Zwar finden sich schon in den Schriften von Hippokrates erste Hinweise, doch erst Ende des 18. Jahrhunderts häuften sich Fallberichte, die meist in dermatologischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Anfang des vergangenen Jahrhunderts erfolgte eine detaillierte Darstellung der vermuteten Bindegewebsschäden von den beiden Dermatologen Edward Ehlers (Dänemark, 1863-1937) und Henri A. Danlos (Frankreich, 1844-1912), nach denen die Krankheit benannt wurde.

Seither sind Spezialisten vieler Fachrichtungen auf der Suche nach Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten dieser eigentümlichen Krankheit. Doch schon bei der Abgrenzung zu verwandten Krankheitsbildern und bei der Klassifikation tun sich die Experten schwer. So wurden in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach neue Kriterien festgelegt, bis man sich 1997 auf die jetzt gültige Einteilung in sieben Subtypen des Syndroms einigte.
Allen Formen gemein sind die drei Hauptsymptome des EDS, die in unterschiedlich starkem Maße bei den Patienten ausgeprägt sind:

  • Hypermobilität: Die Überbeweglichkeit der großen und kleinen Gelenke beeinträchtigt den Alltag stark. Die Patienten haben oft starke Schmerzen. Sie knicken leicht um oder verrenken sich. Oft können sie nicht mehr mit Messer und Gabel essen oder an Unterarmstützen gehen, weil der Druck auf die Gelenke zu groß wird und diese schon bei geringer Belastung wegknicken.
  • Hyperelastizität: Die Haut ist stark überdehnbar und kann teilweise fünf bis zehn Zentimeter hoch gezogen werden.
  • Fragilität: Die Haut ist dünn, weich und leicht verletzbar. EDS-Patienten bekommen oft schon bei kleinen Stößen an Tischkante oder Tür blaue Flecken; auch platzt die Haut schneller auf und heilt dann nur schlecht. Häufig kommt es zur Narbenbildung und die Haut sieht aus wie Zigarettenpapier.

Heimtückisch wird die Erkrankung vor allem deshalb, weil sie nicht auf Haut oder Gelenke beschränkt bleibt. „Kollagene sind Hauptbestandteil von Bindegewebe, die wir überall im Körper finden“, sagt Dr. Martinez-Schramm, „deshalb können auch zahlreiche innere Organe beteiligt sein.“ Besonders gefährdet sind Blutgefäße und Organe wie Darm oder Blase, die ihre Stabilität einbüßen und bei denen es dann zu Ausstülpungen (Divertikel) kommen kann. Martinez-Schramm: „In solchen Fällen wird es lebensbedrohlich. Gefäße können platzen und der Patient verblutet sehr schnell innerlich.“ Einer amerikanischen Studie zufolge haben vor allem EDS-Patienten mit Gefäßproblemen eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. Auch Augenlinse und Zahnhalteapparat können betroffen sein.

Die Ursachen von EDS liegen – wie so oft – in den Genen. Mehrere Erbgänge sind beschrieben. In einer Vielzahl der Fälle sind Mutter oder Vater eines EDS-Patienten nicht erkrankt, sondern lediglich Träger der Erbinformation. Deshalb müssen EDS-Betroffene ihren Kinderwunsch kritisch prüfen und sollten sich vorab genetisch untersuchen und beraten lassen.

Eine kausale Therapie, so die schlechte Nachricht von Dr. Martinez-Schramm, gibt es nicht. Dennoch kann vielen Patienten mit einer Reihe von Maßnahmen geholfen werden. Besondere Bedeutung kommt hier der Physiotherapie und physikalischen Maßnahmen wie Kälte-, Wärme oder Wasserbehandlungen zu. „Krankengymnastik zur Stabilisierung der Gelenke legen wir den meisten Patienten ans Herz. Mit verbesserter Muskelkraft lassen sich Gelenküberdehnungen besser in den Griff bekommen.“ Zur stabileren Gelenkführung und zum Schutz vor Verletzungen bieten sich Orthesen etwa für Knie, Handgelenke oder Ellenbogen an; die Haut wird mit speziellen Strümpfen vor Wunden oder blauen Flecken geschützt. Oft ist auch eine medikamentöse Schmerztherapie in Kombination mit TENS-Geräten oder Akupunktur notwendig; in einigen Fällen auch ein chirurgischer Eingriffe zur Gelenkstabilisierung.

Die interdisziplinären EDS-Spezialsprechstunde wurde vor fünf Jahren von Dr. Behrens in der Uniklinik eingerichtet. Seitdem waren mehr als 250 Patienten in Lübeck, bei 35 wurde das seltene Syndrom festgestellt. Ziel der Sprechstunde ist es, das Zeitintervall vom Auftreten erster Symptome bis zur Diagnosestellung zu verkürzen und gemeinsam ein Erfolg versprechendes Behandlungskonzept zu erstellen. Daran arbeiten unter Federführung der Orthopädischen Klinik weitere Einrichtungen der Universität mit: Die Klinik für Dermatologie und Venerologie, das Institut für Humangenetik, die Medizinische Klinik II (Innere Medizin), die Klinik für Augenheilkunde und das Institut für Molekulare Medizin. Gewebeproben der Haut werden in der Uniklinik Heidelberg analysiert.

Auch Monika, deren Aufenthalt in Lübeck durch Spendengelder aus der Heimat ermöglicht wurde, setzt große Hoffnungen in die Uniklinik. „In Polen habe ich keine ausreichende Therapie erhalten und bin jetzt voller Sorge, vielleicht nie mehr laufen zu können. Ich wünsche mir, dass die umfangreichen Untersuchungen zu einem Ergebnis führen und Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden, die meinen Alltag erleichtern und meine Lebensqualität verbessern.“ Bis dahin benötigt die junge Frau noch etwas Geduld: Zunächst einmal müssen alle Untersuchungsergebnisse der einzelnen Kliniken zusammengetragen und ausgewertet werden.

Die interdisziplinäre Ehlers-Danlos-Sprechstunde findet an jedem ersten Donnerstag im Monat statt. Telefonische Anmeldung unter 0451-500 2287

Uwe Groenewold

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Rüdiger Labahn idw

Weitere Informationen:

http://www.ortho.uni-luebeck.de/

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