Neue Prothese ermöglicht problemloses Treppen steigen und Fahrrad fahren

Dr. Karl Hermann Staubach (li.) und Dr. Hans Grundei mit Martin, dem ersten Träger der neuartigen Prothese. Sie betrachten Knochen und Metallschaft, der in den Oberschenkel implantiert wird.

Erstmals künstlicher Beinersatz direkt mit dem Knochen verbunden

Eine neuartige Beinprothese, die Unfallopfern nach einer Amputation einen beinahe normalen Gang ermöglicht, wurde an der Klinik für Chirurgie der Universität zu Lübeck entwickelt. Das bundesweit Einmalige: Erstmals ist der künstliche Beinersatz fest mit dem Oberschenkelknochen verbunden.
Die so genannte Endo-Exo-Prothese wird per Adapter mit einem in den Knochen implantierten Metallschaft verankert und gewährleistet somit mehr Stabilität und eine bessere Kraftübertragung als herkömmliche Prothesen, deren Hülsen lediglich den Stumpf ummanteln. Erste Erfahrungen mit bisher drei Patienten bestärken die Wissenschaftler in ihrer Annahme, dass die gemeinsam mit der Lübecker Firma „Eska Implants“ konstruierte Prothese gängigen Modellen weit überlegen ist.

Ein 20jähriger Mann, dem nach einem Motorradunfall der linke Unterschenkel und das Kniegelenk amputiert werden mussten, bewältigt mit seiner neuen, computergesteuerten Prothese problemlos den Tagesablauf eines Gesunden: Er arbeitet täglich acht Stunden, fährt Auto und Fahrrad, geht und steigt beschwerdefrei Treppen. „Ein solcher Alltag ist mit herkömmlichem Beinersatz kaum möglich. Zwischen der neuen Prothese und bisher verwandten Modellen liegen Welten“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Karl-Hermann Staubach, Unfallchirurg und Oberarzt an der Lübecker Klinik für Chirurgie (Direktor: Professor Dr. Hans-Peter Bruch). Bis zur Marktreife des neuen Verfahrens will er 12 Patienten behandeln.

Werden nach einem Unfall Muskulatur, Knochen und umliegendes Gewebe verletzt, bleibt trotz aller Behandlungsfortschritte oft nur eine Amputation der zerstörten Gliedmaßen. Um die eingeschränkte Lebensqualität zu verbessern, arbeiten Techniker und Wissenschaftler weltweit an der Entwicklung funktionstüchtiger Prothesen. Karlsruher Forscher haben kürzlich eine Kunsthand vorgestellt, deren Träger am Computer tippen oder kleinste und flache Gegenstände (Gummibären, Scheckkarte) greifen können.
Für Beinamputierte gibt es ähnliche Tendenzen: So steuern Mikroprozessoren künstliche Kniegelenke und eröffnen dem Patienten deutlich mehr Bewegungsspielraum. Das Problem aller Beinprothesen, erläutert Oberarzt Staubach, ist jedoch deren Befestigung. „Die Hülsen oder Köcher solcher Prothesen werden wie eine Hülle um den Stumpf gelegt. Beim Laufen wird der Druck dann auf die Weichteile und nicht wie bei Gesunden auf den Knochen übertragen.“

Dieses Missverhältnis beinhaltet schwer wiegende Nachteile für den Prothesenträger:

  • Beim Gehen entsteht eine Hebelwirkung im Oberschenkel, die dem drei- bis vierfachen des Körpergewichts entspricht. Um diese Kraft vom Knochen auf den Köcher zu leiten, ist erheblich mehr Aufwand als bei einem gesunden Bein notwendig. Das beeinträchtigt das Gangbild sichtbar und führt schneller zu Ermüdungen.
  • Eine optimale Steuerung der Prothese ist nicht möglich. Das Bein „wackelt“ – zumindest ein wenig – in der Hülle.
  • Der permanente Druck auf die Weichteile führt zu Hautrötungen und Geschwüren, die sich entzünden und das Tragen der Prothese vorübergehend unmöglich machen können.
  • Weichteile verändern sich, z.B. durch Muskel- oder Gewichtsverlust. Der Köcher muss neuen Situationen regelmäßig angepasst und entsprechend verändert werden.

„Bei vielen Amputierten“, so Staubachs Fazit, „stehen die Prothesen oft über Wochen im Schrank, weil ihnen der Gebrauch zu viele Unannehmlichkeiten bereitet. Sie bewegen sich statt dessen mit Unterarmstützen oder Rollstuhl fort und nehmen die damit verbundenen Einschränkungen in Kauf.“

Um den Betroffenen mehr Bewegungsfreiheit und größere Belastbarkeit zu ermöglichen, haben Staubachs Team und Dr. Hans Grundei, geschäftsführender Gesellschafter von „Eska Implants“, die neue Prothese entwickelt. Die Innovation geht auf die seit einigen Jahren in der Zahnheilkunde gängige Implantattechnologie zurück. Dabei werden Titanstifte in den Kieferknochen eingesetzt, auf die anschließend die künstlichen Zähne gesteckt werden.

Die Besonderheit der neuen Endo-Exo-Prothese liegt darin, dass die Kraft des künstlichen Beines auf dem ursprünglichen Weg über den verbliebenen Oberschenkelknochen übertragen wird. Dazu wird in einer ersten Operation ein etwa 16 cm langer Metallschaft in den Oberschenkelknochen implantiert (Endoprothese). Dank seiner rauen Oberfläche verwächst das Metall sehr schnell mit körpereigenem Gewebe. Dies ermöglicht nach etwa sechs Wochen eine Grundstabilität, die mit herkömmlichen Prothesen nicht zu erreichen ist. In einer zweiten Operation wird am unteren Teil des Schaftes ein Anschlussstück für die Prothese angebracht, das frei aus dem Stumpf herausragt. Die Verbindung zwischen Metallschaft und Adapter wird mit einer Manschette abgedichtet, um das Eindringen von Keimen zu verhindern und damit die Gefahr einer Knocheninfektion zu minimieren. Zwei Wochen nach diesem Eingriff kann dann die eigentliche (Exo-) Prothese erstmals angeschlossen werden.

Hierbei handelt es sich um ein voll elektronisches, computergesteuertes System, das eine sehr gute Beweglichkeit des Trägers ermöglicht. Sensoren überwachen, in welcher Phase des Schrittes die Prothese sich gerade befindet und passen sich der Geschwindigkeit an. Wegrutschen, Einknicken o.ä. sind mit dem System nahezu ausgeschlossen. Das Adaptieren des künstlichen Beines mittels Sechskantschlüssel wird vom Patienten innerhalb weniger Sekunden selbst durchgeführt.

In der Erprobungsphase werden zunächst nur oberschenkelamputierte Unfallopfer mit dem neuen System versorgt. In den nächsten zwei Jahren sollen insgesamt 12 Patienten von den Lübecker Chirurgen behandelt werden. Erst danach will man über eine Ausweitung der Indikation auf andere Extremitäten oder bei anderen Krankheitsbildern (evtl. Diabetiker, Patienten mit Gefäßerkrankungen) nachdenken. Das Zulassungsverfahren für die neue Prothese, deren Kosten sich auf etwa 20 000 Euro belaufen und die noch keine Kassenleistung ist, läuft nach Angaben von Dr. Grundei bereits: „Wir rechnen damit, dass die Zertifizierung noch in diesem Jahr erfolgt. Interessenten aus den USA und Australien haben sich bereits gemeldet.“

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Rüdiger Labahn idw

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