Harninkontinenz: kein unvermeidbares Altersschicksal


Durch eine angemessene Diagnostik und eine individuelle Beratung und Behandlung können Kontinenzprobleme bei der Mehrzahl der betroffenen älteren Menschen in Pflege- und Altersheimen zumindest verbessert werden. 20 Prozent werden sogar wieder vollständig kontinent, berichten Experten auf der 32. Jahrestagung der International Continence Society in Heidelberg.

Das Gefühl ist nicht angenehm: Man steht an der Essensausgabe in der Cafeteria und fürchtet, dass die dicke Windel-ähnliche Einlage in der Hose bei der nächsten Bewegung laut knistert und alle Umstehenden dies hören können. Eine Unterrichtsstunde haben Ärzte und Pflegende, die an einem Seminar des Geriatrischen Zentrums am Bethanien-Krankenhaus in Heidelberg zum Thema „Harninkontinenz in der Geriatrie“ teilnehmen, zu diesem Zeitpunkt schon mit verpacktem Unterleib absolviert. „Praktische Selbsterfahrung“ nennt dies Dr. Mathias Pfisterer, der die Kontinenzberatungsstelle des Krankenhauses zusammen mit der Kontinenzberaterin Margit Müller leitet. Und wenn dann die Einlage noch etwas mit warmem Wasser angefeuchtet werden soll, „entwickeln selbst Profis erhebliche Widerstände“, berichtet der junge Oberarzt.

Aber genau in dieser Situation befinden sich zwischen 50 und 80 Prozent der mehr als 600 000 Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen leben: Sie haben Kontinenzprobleme. Betroffen sind auch schon zwischen sechs und zwölf Prozent der über 64-Jährigen, die zu Hause leben. Physiologische Veränderungen, urologische und gynäkologische Probleme sowie neurologische Störungen spielen eine Rolle. Aber auch Medikamente können Kontinenzprobleme verursachen.

Die Folgen sind gravierend: Die betroffenen Menschen ziehen sich zumeist aus Schamgefühl zurück und versuchen, ihr Handicap zu verbergen. Hinzu kommen medizinische Probleme, Hautirritationen beispielsweise oder wiederkehrende Infektionen. Ein nicht unerheblicher Teil der Heimaufnahmen erfolgt nicht zuletzt wegen Inkontinenz.

Dabei ist die simple Gleichung „alt gleich inkontinent“ keineswegs zutreffend. Zwar erhöht sich mit zunehmendem Alter das Risiko, ein Kontinenzproblem zu bekommen, doch ebenso sicher ist, dass es Hilfe gibt. „Es ist nicht möglich, jeden älteren Menschen, der Urin verliert, wieder kontinent zu machen“, schränkt Pfisterer ein, „aber wir können viel Leid lindern und dafür sorgen, dass die Betroffenen sich wieder trauen, am Leben teilzunehmen.“ Die entscheidende Voraussetzung: „Hinschauen und verbessern, statt wegschauen und vertuschen.“ Doch viele Ärzte und Pflegende nehmen das Problem nicht so wahr, wie sie sollten. Ebenso mangelt es vielfach an einer sachgerechten Diagnostik und einer individuell angepassten Therapie. Darum kommt beispielsweise den Hausärzten eine besondere Bedeutung zu.

Kontinenzberaterinnen sind spezialisierte Pflegefachkräfte, die auch die Pflegeteams auf den Stationen beraten und unterstützen. Sie können dazu beitragen, dass sich die Situation ändert. „Durch eine angemessene Behandlung, die den individuellen Problemen der älteren Menschen angepasst ist, werden zumindest 20 Prozent der Patienten wieder kontinent“, fasst Pfisterer seine Erfahrungen zusammen. „Bei der Hälfte wird das Problem zumindest besser.“ Dieses Ergebnis erzielte das Team der Kontinenzberatungsstelle am Bethanien-Krankenhaus, die als Modellprojekt von der Stuttgarter Robert-Bosch-Stiftung gefördert wurde.

Neues Modellprojekt für Pflege- und Seniorenheime

In einem weiteren, ebenfalls von der Stiftung geförderten Modellprojekt überprüfen die Experten nun seit Juni diesen Jahres, ob sich das bewährte Prinzip der Kontinenzberatung auch auf Pflege- und Seniorenheime übertragen lässt. Ausgehend von einer gründlichen Analyse werden Mitarbeiter der Beratungsstelle Heimbewohner und Pflegepersonal beraten und schulen. Ein Qualitätsbeauftragter für Kontinenzprobleme wird besonders fortgebildet, damit die bewährten Maßnahmen auch später weitergeführt werden können. Bei so genannten Kontinenzvisiten erhalten Pflegekräfte ebenfalls Unterstützung durch die Beraterinnen.

Natürlich weiß Pfisterer, dass vor allem die personelle Ausstattung vieler Heime eine gute Versorgung begrenzen. „Doch mitunter genügt es schon“, sagt er, „die verfügbaren Kräfte effektiver zu verteilen.“ So kommt es beispielsweise vor allen Dingen darauf an, jene Menschen zu identifizieren, die von einer Behandlung profitieren. In deren Mittelpunkt stehen Maßnahmen wie das so genannte Toilettentraining, von dem es verschiedene Varianten gibt. Wird Heimbewohnern regelmäßig ein Toilettengang angeboten, vermindert sich bei 25 bis 40 Prozent die Zahl der Inkontinenz-Episoden von drei bis vier am Tag auf eine oder sogar noch weniger.

Da ein Toilettentraining nicht nur bei einer Dranginkontinenz hilfreich ist, sondern auch bei der Belastungsinkontinenz sowie gemischten Formen, ist es bei vielen geriatrischen Patienten die Methode der ersten Wahl. Auch Biofeedback, Elektrostimulation und Beckenbodentraining können – abhängig von der jeweiligen Form der Inkontinenz – eingesetzt werden. Und mitunter genügt schon ein Toilettenstuhl in erreichbarer Nähe, um das Problem zu mindern. „Medikamente sollten bei betagten Menschen nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden“, betont Pfisterer. Dafür ist eine individuelle Beratung umso wichtiger.

Hilfsmittel richtig einsetzen

Hilfsmittel müssen ebenfalls gut ausgewählt und der individuellen Situation angemessen sein. „Diese sollten von den Pflegenden jedoch nicht als Ersatz für ein Toilettentraining eingesetzt werden, da sie die Abhängigkeit von fremder Hilfe erhöhen können“, erklärt Pfisterer. Ist eine Inkontinenz anderweitig nicht zu beheben, sind die Hilfsmittel jedoch unverzichtbar.

Kritisch sieht der Arzt den häufigen und vor allem langzeitigen Einsatz so genannter Dauerkatheter in Kliniken und Pflegeheimen. Diese können Infektionen, Blasensteine, Abszesse und sogar Tumoren verursachen. Ältere Patienten, die bei einer Behandlung in einem Akutkrankenhaus mit einem Blasenkatheter versorgt werden müssen, brauchen in vielen Fällen zunächst ein Blasen- oder Toilettentraining, um danach wieder kontinent zu werden.

Hier fehlt allzu oft Fachwissen, um den Betroffenen angemessene Hilfsangebote machen zu können. Auch die Angehörigen erhalten meist keine Hinweise, wie sie den Betroffenen helfen können. „Aber gerade die Angehörigen“, weiß Pfisterer, „müssen lernen, damit umzugehen, wobei die Kontinenzberaterinnen ebenfalls helfen können.“

Rückfragen an:
Dr. med. Mathias Pfisterer
Kontinenzberatungsstelle Bethanien-Krankenhaus
Rohrbacher Str. 149, 69126 Heidelberg
Tel.: 06221-319-353
Fax: 06221-319-303
E-Mail: mpfisterer@bethanien-heidelberg.de

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Dipl. Biol. Barbara Ritzert idw

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