Harninkontinenz: Das verschwiegene Leiden


Harninkontinenz ist keine lebensbedrohliche Krankheit. Dennoch macht sie Millionen von Menschen das Leben zur Hölle. Dabei kann 80 Prozent der Patienten mit modernen Therapiemethoden geholfen werden. Und selbst Inkontinenz-Formen, bei denen die therapeutischen Möglichkeiten eingeschränkt sind, können in vielen Fällen deutlich gebessert werden, erklären Experten auf der 32. Jahresversammlung der International Incontinence Society in Heidelberg.

„Heute werden alleine in Deutschland etwa vier bis fünf Millionen Menschen mit einer Harninkontinenz medizinisch betreut, doch die Dunkelziffer dürfte mindestens noch einmal so groß sein“, erklärt Professor Manfred Stöhrer von der BG-Unfallklinik im bayerischen Murnau und Präsident der 32. Jahresversammlung der Internationalen Continence Society. In der Altersgruppe zwischen 65 und 79 Jahren haben schätzungsweise elf Prozent ein gravierendes Kontinenzproblem – rund sieben Millionen Menschen allein in Deutschland. Bei den über 80-Jährigen sind mindestens 30 Prozent betroffen – eine weitere Million.

Doch Harninkontinenz ist kein Problem, unter dem ausschließlich ältere Menschen leiden: 20 Prozent der fünfjährigen Kinder nässen nachts ein, also etwa 155000 Kinder in Deutschland. Im Alter von sieben Jahren sind noch 12 bis 16 Prozent der Jungen und 7 bis 12 Prozent der Mädchen betroffen. Neue Studie belegen, dass in dieser Altersgruppe 8,4 Prozent der Mädchen und 1,4 Prozent der Jungen tagsüber unter Harninkontinenz leiden.

Rund die Hälfte aller Frauen über 50 beklagt eine leichte Form von Inkontinenz – das sind etwa acht Millionen Betroffene. Zwischen 12 und 18 Prozent – zwei bis 3,2 Millionen Frauen – leiden an der schweren Form.

Mit Sorge verfolgen die Experten vor allem die Entwicklung bei den älteren Menschen. Diese leiden oft an Inkontinenz-Formen, bei denen die rehabilitativen und operativen Möglichkeiten eingeschränkt sind – selbst wenn bei der Hälfte der Betroffenen zumindest eine deutliche Besserung erzielt werden kann. Und der Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung wächst in Deutschland unerbittlich: Waren 2000 etwa 16 Prozent der Bundesbürger über 65 Jahre alt, werden es bis zum Jahr 2020 rund 20 Prozent sein. Bis zum Jahr 2050 sollen sogar fast 29 Prozent der Bundesbürger im Rentenalter sein.

Heute sind hier zu Lande rund 1,8 Millionen Menschen pflegebedürftig. Bis zum Jahr 2020 werden es eine Million mehr sein. Weltweit soll bis zum Jahr 2025 eine Milliarde Menschen älter sein als 65 Jahre. Europa wäre dann der „älteste“ Kontinent mit einem Viertel der Bürger über 65 Jahre.

Eine Harninkontinenz verursacht soziale, medizinische und hygienische Probleme. Betroffene ziehen sich zumeist aus der Gesellschaft zurück und versuchen, so lange wie möglich ihre Inkontinenz zu verbergen. Hinzu kommt Angst vor Untersuchungen und Therapien sowie Eingriffen, die nicht in jedem Fall helfen können.

Dies trägt dazu bei, dass die Patienten erst dann zum Arzt gehen, wenn die Situation für sie unerträglich geworden ist. Denn die Annahme, dass man sich mit einer Inkontinenz als „Altersschicksal“ abfinden müsse, ist so verbreitet wie falsch. Zu den medizinischen Folgen gehören wiederkehrende Infektionen der Harnwege, bei bestimmten Formen der Blasenstörung werden die Nieren im Laufe der Zeit massiv geschädigt. Auch die Haut wird durch die ständige Feuchtigkeit geschädigt und gereizt.

Kosten: Fast eine Milliarde für die Versorgung in deutschen Heimen
In den USA beliefen sich die direkten Kosten der Inkontinenzbehandlung auf über 26 Milliarden US-Dollar im Jahre 1995. Aufgrund neuester Untersuchungen australischer Forscher von der University of New South Wales (Abstract Nr. 49), die auf der ICS-Tagung präsentiert werden, kostet alleine die Kontinenzberatung in einer Akutklinik pro Patient zwischen 20 und 33 Euro, wobei die Versorgungskosten auf der Station nicht enthalten sind. Eine andere Analyse dieser Wissenschaftlergruppe aus Sydney (Abstract Nr. 50) berechnete, dass in einer Klinik pro Patient 27,40 Euro pro Tag für die Inkontinenzversorgung (Personal, Toilettengänge, Vorlagen, Bettwäsche, Katheterversorgung) aufgewendet werden müssen.

In Deutschland errechnete das DRK-Seniorenzentrum in Velbert für das Jahr 1995, dass pro Bewohner und Tag umgerechnet rund neun Euro für die Inkontinenzversorgung aufgewendet werden mussten. Wenn nur diese Kosten der älteren deutschen Erhebung zu Grunde gelegt werden, müssen täglich mindestens 2,7 Millionen Euro in Deutschland für die Versorgung der Heimbewohner mit einem Kontinenzproblem aufgewendet werden – pro Jahr fast eine Milliarde. Nicht enthalten sind darin die Kosten für die Versorgung jener Menschen, die zu Hause versorgt werden.

Effiziente Diagnostik und Therapie könnte Kosten senken
„Die Kosten, die für die Versorgung der Patienten aufgewendet werden müssen“, sagt Stöhrer, „ließen sich insgesamt vermutlich deutlich reduzieren, wenn die modernen diagnostischen Möglichkeiten genutzt und darauf aufbauend individuelle Therapien frühzeitig eingeleitet würden.“ Bei rund einem Drittel der 3000 Patienten, die jährlich vom Ärzte-Team um Stöhrer in der BG-Klinik Murnau untersucht und behandelt werden, hätte eine bessere und frühzeitige Diagnostik den Betroffenen nicht nur Leid, sondern den Versicherungen oft auch Kosten gespart.

„Wir sehen immer wieder Patienten“, kritisiert Stöhrer, „die aufgrund einer unzureichenden Diagnostik jahrelang mit Medikamenten behandelt werden, die ihnen nichts nutzen, oder die unnötig operiert wurden, weil die Indikation fraglich war.“ Selbst einfache Maßnahmen unterbleiben, wie das Führen eines „Miktions-Tagebuches“, in dem Trinkmenge und Toilettengänge protokolliert werden. Spezialisten können darüber hinaus mit Hilfe der modernen Video-Urodynamik – einer Art „Blasen-Fernsehen“ mit integrierter Druckmessung – Aktivität und Funktion von Blase und Blasenschließmuskel sehr genau untersuchen.

Neurogene Funktionsstörung der Blase ist sehr häufig
Davon profitieren insbesonders jene Patienten, die an einer neurogenen Blasenfunktionsstörung leiden: Erkrankungen und angeborene Missbildungen des zentralen oder peripheren Nervensystems verursachen in diesen Fällen Fehlsteuerungen der Blasenfunktion. „In der Öffentlichkeit und leider auch von vielen Ärzten“ klagt Stöhrer, „wird die Inkontinenz mit der weiblichen Belastungsinkontinenz gleichgesetzt und primär auf morphologische Veränderungen zurückgeführt.“ Doch dies ist falsch. Die neurogen gestörte Blasenfunktion ist sehr viel weiter verbreitet als bislang angenommen. Sie ist ein häufiger Begleiter neurologischer Erkrankungen: Schätzungsweise die Hälfte der Patienten mit einem frischen Schlaganfall ist inkontinent. Bis zu 90 Prozent der Parkinson-Patienten entwickeln im Laufe der Jahre ein Kontinenzproblem.

Dies gilt auch für Demenz-Kranke, Patienten mit Multipler Sklerose und Patienten mit degenerativen Bandscheibenleiden. Auch bei Diabetes mellitus sind Schäden am peripheren Nervensystem die Ursache von Inkontinenz. Hinzu kommen auch so genannte iatrogene (= medizinisch bedingte) Ursachen, berichtet Stöhrer: „Insbesondere Medikamente spielen zunehmend eine Rolle.“

Einsichten in die komplizierte Steuerung der Blasenfunktion und gezielte Behandlungsmethoden haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass inzwischen mehr als 80 Prozent der Patienten geholfen werden kann. Aussagekräftige radiologische und neuro-urologische Untersuchungstechniken ermöglichen es, Betroffene mit beginnenden Problemen frühzeitig zu erkennen. Für die zeitlich und apparativ aufwendige Spezialdiagnostik (Video-Urodynamik) existieren Zentren. Moderne Anticholinergika in Verbindung mit dem „intermittierenden Selbstkatheterismus“, bei dem der Patient sich mehrmals täglich mit Hilfe eines sterilen Katheters selbst die Blase entleert, sorgen bei vielen Patienten über Jahre hinweg für eine ausgeglichene Blasenfunktion.

Bakteriengift lässt eine spastische Blase erschlaffen
Hinzu kommen vielfältige operative Möglichkeiten, um die Speicherfähigkeit und auch die Entleerungssituation zu verbessern, sowie reversible Maßnahmen wie Stents. „Die Injektion von Botulinum-Toxin – einem Bakteriengift, das Muskeln erschlaffen lässt – gehört sicherlich zu den neuesten Entwicklungen, die auf diesem Kongress diskutiert werden“, sagt Stöhrer. Von dieser Behandlung profitieren beispielsweise Patienten mit einer spastischen Blase aufgrund einer hohen Querschnittlähmung. Bei einem kleinen Eingriff wird das Bakteriengift via Endoskop von innen in den Blasenmuskel gespritzt. Die Wirkung dieser Therapie hält mehrere Monate an. Auch apparative Verfahren – Elektrostimulation und Neuromodulation – können dafür sorgen, dass die Blasenfunktion nahezu normal abläuft.

Diese Optionen sind nicht nur unter sozialen und gesundheitspolitischen Aspekten von großer Bedeutung: Entscheidend ist der Gewinn an Lebensdauer und -qualität. So ist heute beispielsweise die Lebenserwartung von querschnittgelähmten Patienten – eine adäquate Versorgung vorausgesetzt – kaum mehr eingeschränkt.

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Dipl. Biol. Barbara Ritzert idw

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