"Wenn man Angst gelernt hat"

Körpereigenes Cannabinoid-System löscht unangenehme Erinnerungen wieder aus

Hanf als Droge, Therapeutikum oder beides? In der modernen Medizin werden die Aufbereitungen von Cannabis sativa zunehmend eingesetzt – unter anderem in der Schmerztherapie. Die Wirkstoffe ähneln körpereigenen Botenstoffen des Endocannabinoidsystems und aktivieren dieselben Rezeptoren im Zentralnervensystem. Die LMU-Anästhesiologin Shahnaz Christina Azad zeigt in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature (Bd. 418, S. 530, 2002) in Zusammenarbeit mit deutschen und italienischen Forschern unter der Leitung von Beat Lutz vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie, dass das Endocannabinoidsystem bei der Auslöschung unangenehmer Erinnerungen eine zentrale Rolle spielt. „Damit könnte es einen therapeutischen Ansatzpunkt bei Leiden darstellen, die mit dauerhaft gespeicherten, schlechten Erinnerungen zu tun haben“, so Azad. „Dazu gehören beispielsweise posttraumatische Belastungsstörungen, Phobien oder bestimmte Formen von chronischem Schmerz.“

Ein schmerzhafter Stromimpuls und ein gleichzeitig erklingender Ton genügen, um Mäuse zu konditionieren. Wenn in Zukunft das akustische Signal erklingt, werden die Tiere in der Bewegung erstarren – auch ohne „Elektroschock“. Sie assoziieren den Ton mit der unangenehmen Erfahrung. Deshalb genügt das akustische Signal, um die Angstreaktion auszulösen. Es hat eine „Angstkonditionierung“ stattgefunden. Wird der Ton ohne den Stromimpuls mehrfach präsentiert, verblasst die unangenehme Erinnerung, um schließlich völlig zu erlöschen. Die Tiere verhalten sich wieder normal und reagieren nicht mehr auf das akustische Signal, solange die schmerzhafte Erfahrung nicht durch einen weiteren Stromschlag aufgefrischt oder erneuert wird.

Einige Mäuse in den Experimenten von Azad und ihren Kollegen verhielten sich nach der Konditionierung allerdings atypisch: Sie behielten auch ohne Elektroschock das Angstverhalten unverändert bei. Diesen Tieren fehlte der Cannabinoid-1-Rezeptor, jener Rezeptor des Endocannabinoid-systems, der vor allem im Zentralnervensystem exprimiert ist. Ein ähnliches Verhalten zeigten auch gesunde Mäuse, deren Cannabinoid-1-Rezeptor blockiert war, so dass sich keine Botenstoffe anlagern konnten. Die Forscher wiesen in beiden Fällen nach, dass die Auslöschung der unangenehmen Erinnerung auf kurze Sicht gestört, aber auch langfristig erschwert ist. Eine Funktion des Endocannabinoidsystems bei der Speicherung und Konsolidierung der unangenehmen Erfahrungen konnte ausgeschlossen werden.

Die Auslöschung der schlechten Erinnerungen ist ein aktiver Prozess: Bei den konditionierten Mäusen fanden sich während der Phase des „Vergessens“ im Gehirn erhöhte Konzentrationen der beiden bisher bekannten, körpereigenen Endocannabinoide, wenn das akustische Signal erklang – dann also, wenn die unangenehme Erinnerung abgerufen wurde. Konnten die Botenstoffe allerdings nicht an die Rezeptoren anlagern, weil diese nicht vorhanden oder blockiert waren, blieben die unangenehmen Erinnerungen unverändert gespeichert.

Gemessen wurden die hohen Konzentrationen in jener Hirnregion, die im Rahmen der Angstkonditionierung als bedeutend gilt: in der basolateralen Amygdala. Die Amygdala ist eine komplexe Struktur, die in Größe und Form einem Mandelkern – griechisch „Amygdala“ – ähnelt. Dort werden vor allem Sinneseindrücke verarbeitet sowie Gefühle und emotionales Verhalten gesteuert. „Ich untersuche derzeit die genauen Wirkungen von Cannabinoiden in der Amygdala auf zellulärer Ebene“, so Azad. „Es muss auch noch gezeigt werden, ob das System bei der Anpassung an unangenehme Situationen oder der Auslöschung von Gedächtnisinhalten, die nicht negativ besetzt sind, eine wichtige Rolle spielt.“

Ansprechpartner:

Dr. Shahnaz C. Azad
Klinik für Anästhesiologie, Klinikum Großhadern
Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Klinische Neuropharmakologie
Tel. +49-89-30622-256
Fax: +49-89-30622-402
E-Mail: azad@mpipsykl.mpg.de

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Cornelia Glees-zur Bonsen idw

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