Mechanische Eigenschaften biologischer Nanomaterialien entschlüsselt

Große Fortschritte bei der Entwicklung neuer, multifunktionaler Materialien, aber auch für das Verständnis von Krankheiten wie Alzheimer versprechen Untersuchungen im Rahmen eines Kooperationsprogramms zwischen dem Institut für Angewandte und Experimentelle Mechanik der Uni Stuttgart und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT): Erstmals ist es den Wissenschaftlern gelungen, mit Hilfe von atomistischen Berechnungen fundamentale Bruchmechanismen von biologischen Materialien zu erklären.

Darauf aufbauend entwickelten sie eine Theorie, die es ermöglicht, die Festigkeit und Robustheit von biologischen Nanostrukturen vorherzusagen. Über die Arbeit wird die renommierte amerikanische Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ als Titelthema ihrer Ausgabe 42 vom 16. Oktober berichten.*)

Warum ist Spinnenseide stärker als Stahl? Was macht Knochen so fest und verformbar zugleich? Wieso können Zellen auf ein vielfaches ihrer ursprünglichen Länge reversibel verformt werden? Und welche molekularen Mechanismen führen zu mechanischen Fehlfunktionen von Proteinen, was bei Krankheiten wie Alzheimer, vorzeitiger Alterung oder degenerativen Muskelerkrankungen eine zentrale Rolle spielt? Die Ursache all dieser Phänomene sind intelligente, multifunktionale biologische Nanostrukturen.

Die Eigenschaften dieser Strukturen wollen die Wissenschaftler entschlüsseln, um sie in Form neuer Materialien für den Menschen nutzbar zu machen oder auf neuen Wegen genetische Krankheiten zu heilen. Dabei verfolgt die Gruppe um Projektleiter Prof. Markus Buehler vom MIT und Theodor Ackbarow, Austauschstudent der Uni Stuttgart am MIT, einen Ansatz, bei dem das mechanische Verhalten auf atomarer Ebene durch Simulationen auf Hochleistungscomputern untersucht wird und Rückschlüsse auf makroskopische Beobachtung gezogen werden.

Dabei ist jetzt ein Durchbruch gelungen. Zum ersten Mal konnten auf atomarer Ebene Deformationsmechanismen von Proteinmaterialien im Cytoskelett der Zelle und in Amyloid-Fasern, wie sie bei Alzheimer vorkommen, erklärt werden. „Das Besondere an biologischen Proteinmaterialien ist, dass sie meist aus sehr 'weichen' Wasserstoffbrückenbindungen aufgebaut sind“, erklärt Ackbarow.

Dennoch erreichen biologische Materialien hohe Festigkeiten, ähnlich derer von Glas oder Stahl. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Existenz von hierarchischen Materialstrukturen von Nano zu Makro der Schlüssel zum Erreichen dieser außergewöhnlichen Eigenschaften ist. Die hierarchischen Strukturen erlau-ben es, scheinbar widersprüchliche Materialeigenschaften wie Festigkeit und Robustheit oder Selbstheilung und Selbstadaptation miteinander zu vereinen und zudem die schwachen chemischen Bindungen zu verstärken. Dadurch ist es möglich, trotz schwacher chemischer Bindungen belastbare, sich ständig an die Umgebung anpassende Materialien zu erzeugen. „Wir konnten nachweisen, wie in biologischen Materialien Hierarchien als eine weitere Designvariable verwendet werden, um den Konflikt zwischen Robustheit und Festigkeit, der in synthetischen Materialien vor-liegt, aufzuheben“, so Prof. Buehler. „Dies eröffnet neue Wege zur Materialsynthese und wird zum Verständnis vieler Krankheiten beitragen.“

Vorhersage für mechanische Eigenschaften von Proteinstrukturen

Die Forscher haben beobachtet, dass aufgrund der hierarchischen Struktur je nach Verformungsgeschwindigkeit verschiedene Deformations- und Bruchmechanismen auftreten. Wenn sich zum Beispiel eine Zelle aktiv verformt, treten Mechanismen auf, die dafür sorgen, dass das Gewebe weich bleibt und somit die Verformungen unter minimalem Energieauf-wand möglich sind. Wirkt hingegen eine Schocklast auf das Gewebe ein, werden andere Bruchmechanismen aktiviert, die zu einer lokalen Verfestigung des Materials führen. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen konnten die Forscher erstmals ein Festigkeitsmodell entwickeln, das es ermöglicht, ausschließlich aufgrund der Eigenschaften der chemischen Verbindungen und der Geometrie der Moleküle die mechanischen Eigenschaften von Proteinstrukturen vorherzusagen. Das ist der erste Schritt, um biologische Materialien zu entwickeln, die sich nicht nur selbst einer Belastung anpassen oder sich selbst regenerieren können, sondern auch bei moderaten Temperaturen herzustellen sind.

Die Ergebnisse entstanden im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Institut für Angewandte und Experimentelle Mechanik der Uni Stuttgart (Leitung Prof. Lothar Gaul) und dem MIT Laboratory for Atomistic and Mo-lecular Modeling von Prof. Markus Buehler, der selbst an der Universität Stuttgart studierte und promovierte. Dipl.-Ing. Theodor Ackbarow, der bis Juli 2007 an der Uni Stuttgart Technologiemanagement studierte, leistete wesentliche Beiträge an der Planung, Durchführung und Auswertung der virtuellen Experimente sowie an der Entwicklung der Festigkeitstheorie.

*)Theodor Ackbarow, Xuefeng Chen, Sinan Keten, Markus J. Buehler: „Hierar-chies, multiple energy barriers and robustness govern the fracture mechanics of alpha-helical and beta-sheet protein domains“, Proc . Nat'l Academy of Sciences USA, Vol. 104 (42), pp. 16410-16415, 2007.

Weitere Informationen bei Prof. Markus Buehler, MIT, e-mail mbuehler@MIT.EDU, sowie bei Dipl.-Ing. Theodor Ackbarow (in Germany), Tel. 08531/31173, Mobil: 0176/700 52 123, e-mail: ackbarow@MIT.EDU.

Media Contact

Ursula Zitzler idw

Weitere Informationen:

http://www.pnas.org/papbyrecent.shtml

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