Gesucht: das richtige Wandmaterial für ITER

Forschungsziel des IPP ist die Entwicklung eines Kraftwerks, das – ähnlich wie die Sonne – aus der Verschmelzung von Atomkernen Energie gewinnt. Die Machbarkeit soll mit 500 Megawatt Fusionsleistung der internationale Experimentalreaktor ITER (lat. „der Weg“) zeigen, dessen Bau im kommenden Jahr in Cadarache/Südfrankreich beginnen wird. Hier muss es gelingen, den Brennstoff – ein dünnes ionisiertes Wasserstoffgas, ein „Plasma“ – berührungsfrei in einem Magnetfeldkäfig einzuschließen und auf Zündtemperaturen über 100 Millionen Grad aufzuheizen. Eine der großen Herausforderungen dabei ist es, eine verträgliche Wechselwirkung zwischen dem heißen Plasma und der Wand des umgebenden Gefäßes zu erreichen.

Das Problem

Energiereiche Plasmateilchen können nämlich Atome aus der Wand herausschlagen, die dann in das Plasma eindringen und es verunreinigen. Anders als der leichte Wasserstoff sind die schweren Atome aus der Wand auch bei den hohen Fusionstemperaturen nicht vollständig ionisiert. Je mehr Elektronen noch an die Atomkerne gebunden sind, desto mehr Energie entziehen sie dem Plasma und strahlen sie als Ultraviolett- oder Röntgenlicht wieder ab. Auf diese Weise kühlen sie das Plasma ab, verdünnen es und verringern so die Fusionsausbeute. Sind leichte Verunreinigungen in Konzentrationen von einigen Prozent noch tragbar, liegt das Limit für schwere Verunreinigungen wie Eisen oder Chrom viel niedriger. Heutige Anlagen nutzen deshalb für die Wand durchweg leichte Materialien wie Beryllium oder Kohlenstoff. Auch für die Wand des Testreaktors ITER sind beide vorgesehen.

Für ITER sind Kohlenstoff und Beryllium aber nicht mehr problemlos: Ihre Zerstäubung bei Beschuss mit Wasserstoff ist relativ hoch – bei den hohen Wasserstoff-Flüssen aus dem großen ITER-Plasma käme es daher zu starkem Materialabtrag. Darüber hinaus sammeln sich in Kohlenstoff leicht Wasserstoff-Teilchen an, in ITER also auch – aus Sicherheitsgründen höchst unerwünscht – die radioaktive Variante Tritium. Eine komplett mit dem Metall Wolfram beschichtete Wand würde diese Probleme der leichten Elemente vermeiden: Wolfram zeigt vorteilhafte thermische Eigenschaften, geringe Zerstäubung durch Wasserstoff, keine langfristige Einlagerung von Tritium. Bleibt die kritische Frage, wie viele der schweren Wolfram-Teilchen in das Plasmazentrum vordringen können. Mehr als einige Hunderttausendstel – so neuere Abschätzungen – dürfen es für ITER nicht sein.

Wolfram-Experimente im IPP

Pionier beim Testen von Wolfram als Wandmaterial ist das Garchinger Experiment ASDEX Upgrade: Trotz schlechter Erfahrungen in anderen Laboratorien hat man 1996 damit begonnen, spezielle Partien der ansonsten komplett mit Kohlenstoff-Kacheln bedeckten Wand mit Wolfram zu beschichten. Man setzte dabei auf den andersartig eingestellten, ITER-ähnlichen, d.h. kalten Plasmarand von ASDEX Upgrade. Das Ergebnis ermutigte zu einer weiteren Reduzierung des Kohlenstoffs. Man wollte prüfen, wie sich dies auf das Plasma und seine Wechselwirkung mit den Wolfram-Komponenten auswirkt. Um andere Forschungsziele nicht zu gefährden, wurde die Wolfram-Oberfläche nur schrittweise vergrößert. Die sich jeweils im Plasma einstellende Wolfram-Konzentration zuverlässig zu ermitteln, ist nicht einfach, umso weniger, wenn die Abstrahlungsverluste nicht nur einer einzigen Verunreinigung zuzuordnen sind. Nach Entwicklung der nötigen Messmethoden zeigte sich jedoch, dass auch eine ausgedehnte Wolfram-Oberfläche das Plasma von ASDEX Upgrade nicht über Gebühr beeinflusst.

Bleibt zu beweisen, dass auch eine volle Metallauskleidung des Gefäßes mit den für ITER gewünschten günstigen Plasmazuständen – wie dem im IPP entwickelten „High Confinement-Regime“ – verträglich ist. Nachdem die letzten Kohlenstoff-Kacheln ausgetauscht und alle Oberflächen sorgfältig gereinigt waren, begannen kürzlich die Experimente mit einer reinen Wolfram-Wand. Im Interesse eindeutiger Versuchsbedingungen hat man dabei auch auf die sonst allgemein übliche Vorbehandlung des Gefäßes mit Bor verzichtet. Um die Verluste durch Verunreinigungsstrahlung zu reduzieren, werden dazu die Wandoberflächen durch eine Glimmentladung in einem Borwasserstoffgas mit einer dünnen Bor-Schicht bedeckt. In ITER oder einem späteren Kraftwerk wird dies jedoch nicht mehr möglich sein.

Deshalb hat auch ASDEX Upgrade ohne Borierung begonnen – und war erfolgreich: Die Wolframkonzentration liegt unter der kritischen Schwelle, die gewünschten günstigen Plasmazustände lassen sich mit nur geringem Qualitätsverlust einstellen. Ziel der weiteren Untersuchungen wird es sein, die Wolfram-Verträglichkeit in ITER-relevanten Plasmazuständen genau zu prüfen. Entscheidend wird sein, ob auch ohne Borierung andauernde „gute“ High-Confinement-Plasmen erreicht werden. Ungefähr zwei Jahre kann sich das IPP für diese Arbeiten Zeit nehmen – dann fällt die Entscheidung über die Innenwand von ITER.

Media Contact

Isabella Milch idw

Weitere Informationen:

http://www.ipp.mpg.de

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