Der Mensch als Maschine mit Reparaturbedarf?

Mit Leuchtmarkern eingefärbte Zellen unter dem Mikroskop. Die Empa-Abteilung "Materials Biology Interactions" untersucht auf diese Weise die Migration von Zellen auf der Oberfläche von Implantaten.

Immer besser lernt die Wissenschaft die Wechselwirkungen zwischen den verwendeten Materialien und menschlichen Zellen verstehen und ebnet so den Weg für bessere Implantate. Doch wie lange sind wir noch Mensch und wann werden wir zu so genannten „Cyborgs“ – eine Mischung aus Mensch und Maschine? Am ersten Wissenschaftsapéro der Empa in St. Gallen Ende September wurde auch diese Frage aufgeworfen.

Verengungen der Herzkranzgefässe durch Verkalkung und als Folge davon Herz-Kreislauf-Probleme oder gar Herzinfarkte nehmen laufend zu, das zeigen Statistiken. So gibt es in der Schweiz jedes Jahr mehr als 16'000 Operationen zur Erweiterung der Herzkranzgefässe. Hans Rickli, Chefarzt und Kardiologie am Kantonsspital St. Gallen, legte dem Publikum im gut gefüllten Vortragssaal der Empa in St. Gallen dar, dass der Durchbruch auf diesem Gebiet erst 1995 dank neu entwickelter Implantate und einer neuen Operationstechnik eintrat – nach Jahren intensiver Forschung. Dabei wird zuerst ein Ballon in die Gefässe eingeführt und an der verengten Stelle aufgeblasen, danach werden Gefässstützen, so genannte „Stents“, eingesetzt. Denn, informierte Rickli weiter, ohne Stents verengen sich die Gefässe in manchen Fällen schon nach kurzer Zeit erneut. Und mit herkömmlichen Stents aus Metall blieben Arterien und Venen zwar offen; doch das Metall führte oft zu unerwünschten Folgen. „Es kam nicht selten zu Blutgerinnseln, Narbenbildung und Entzündungen“, so der Kardiologe. Um diese ungewollten Folgen zu verhindern, haben Forscherkreise weltweit die Wechselwirkung von künstlichen Materialien und menschlichen Zellen untersucht, um aufgrund dieser Erkenntnisse neue, besser „verträgliche“ Implantate zu entwickeln. Im Falle der Stents sind dies etwa ausgeklügelte Beschichtungen aus Nanopartikeln und Medikamenten, die von den Gefässstützen abgegeben werden und so beispielsweise die Narbenbildung verhindern helfen.

Gesucht sind biokompatible Werkstoffe

Wie künstliche Oberflächen mit verschiedenen menschlichen Zellen reagieren, ist denn auch eine der Fragen, mit der sich die Forschungsgruppe MaTisMed (Materials and Tissues for Medicine) der Empa-Abteilung“Materials Biology Interactions“ beschäftigt. Arie Bruinink, Leiter der Gruppe, erklärte den Gästen einige Ergebnisse seiner Forschung anhand von Mikroskopaufnahmen und kurzen Filmsequenzen. In „in-vitro“-Versuchen, also in Versuchen im „Reagenzglas“, mit adulten Stammzellen aus Oberschenkelknochen und Nervenzellen aus dem Rückenmark hat er mit seinem Team herausgefunden, dass die Oberflächentopografie der verwendeten Materialien Einfluss auf das Verhalten der Zellen hat. So ändern sich Wandergeschwindigkeit, Ausrichtung und Haftung der Zellen an der Materialoberfläche je nach deren Struktur. All diese Faktoren seien für die erfolgreiche und rasche Wundheilung sowie das rasche Einwachsen von Prothesen äusserst wichtig, erklärte Bruinink, der früher den Bereich „in-vitro“-Neurotoxikologie an der ETH Zürich geleitet hatte.

Trotz vieler Untersuchungen hinsichtlich Biokompatibilität und ähnlicher Experimente an der Empa, die zum Teil in Zusammenarbeit mit Industriepartnern ausgeführt werden, steht die Forschung auf diesem Gebiet noch immer am Anfang. Bruinink: „Wir verstehen noch immer viel zu wenig davon, welche Materialeigenschaften welches Zellverhalten auslösen.“ So führten schon kleinste Unterschiede in den Eigenschaften von nanobeschichteten Implantatoberflächen bei verschiedenen Zellen zu sehr unterschiedlichen Reaktionen, was das Team um Bruinink vor grosse Herausforderungen stellt.

Wie weit ist zu weit?

Die eingesetzten „Ersatzteile“ müssten aber nicht nur bio-, sondern auch psychokompatibel sein, forderte der Psychologe Hans Rudolf Schelling vom Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Seit der französische Denker René Descartes im frühen 17. Jahrhundert die Maschine als Modell für den Menschen anführte, wird die Trennlinie zwischen den beiden zusehends unschärfer, äusserte sich der Psychologe weiter. „In jüngster Zeit hat mit all den eingesetzten „Ersatzteilen“ wie Hüftgelenk, Prothese, Herzschrittmachern und Gefässstützen sogar eine regelrechte Symbiose zwischen Mensch und Maschine stattgefunden – die Folge ist ein Mischwesen aus beidem.“ Die Frage stelle sich nun, wie mit diesen „Cyborgs“ (engl. „cybernetic organisms“, deutsch kybernetischer Organismus) umzugehen sei, meinte Schelling. Wird dadurch wirklich in jedem Fall Lebensqualität und Wohlbefinden gesteigert? Wer übernimmt die Verantwortung für die lebensverlängernden Massnahmen? Wer entscheidet, wer von den neuen technischen Errungenschaften profitieren darf? Und bei wie vielen „Ersatzteilen“ fühlen wir uns nicht mehr als Mensch, sondern bereits als „Cyborg“?

Am einfachsten ist es zweifellos, gar nicht erst auf derartige Ersatzteile angewiesen zu sein. „Das Risiko von Gefässverengungen beispielsweise kann durch die Lebensweise – ohne Zigaretten, mit gesunder Ernährung und genügend Bewegung – um gegen 50 Prozent gesenkt werden“, gab der Kardiologe Hans Rickli dem Publikum mit auf den Weg.

Fachliche Auskünfte
Arie Bruinink, Abt. Materials Biology Interactions, Tel. +41 71 274 76 95, arie.bruinink@empa.ch
Redaktion und Bilder:
Sabine Voser Möbus, Abt. Kommunikation, sabine.voser@empa.ch

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Sabine Voser idw

Weitere Informationen:

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